Insgesamt eine gute Gesellschaft

Deutschlands oft missachtete Selbstverständlichkeiten

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler

Einfach den häuslichen Wasserhahn aufdrehen können, den Mund oder ein Glas drunter halten: Es fließt reines Trinkwasser, das keine gesundheitlichen Risiken birgt. Ganz im Gegenteil, es soll sogar gesund sein.

Einfach im Restaurant oder im Kaffeehaus sitzen können und nicht von Straßenkindern oder verdreckten Erwachsenen aufdringlich angebettelt werden.

Einfach auf der Parkbank sitzen und niemand drängt einem Kugelschreiber, Blumen oder Schuhputzen auf.

Einfach aus dem Bus oder Taxi aussteigen, sein eigenes Gepäck nehmen und damit weitergehen können, ohne ungefragt aufgezwungene „Dienstleistungen“ und damit verbundene aggressive Trinkgelderwartungen nachdrücklich abwehren zu müssen. Und sich nicht dafür beschimpfen lassen müssen.

Sich nicht vor herrenlosen Straßenhunden fürchten zu müssen, weder auf dem Land noch in der Stadt.

Vier Wochen in einer recht anderen Gesellschaft öffnen die Augen für so manche Selbstverständlichkeiten zu Hause. Wer denkt schon darüber nach, was es bedeutet, wenn man in (fast) keiner Toilette Klopapier findet, auch nicht in den Restaurants mit weißen Tischdecken? Sind wir in Deutschland (noch) dankbar dafür, dass es bei uns (fast) überall Klobürsten gibt?

Es war keine vierwöchige Tour durch ein Entwicklungsland, sondern durch ein Land, das sowohl von der EU als auch von den Vereinten Nationen offiziell zu den Industriestaaten gezählt wird, das mir wieder einmal die Augen dafür öffnete, in welch einer reichen, gut organisierten, sauberen und insgesamt zivilisierten Gesellschaft wir leben.

Kommen Sie mir jetzt bitte nicht mit dem Berliner Neukölln, dem Hamburger Wilhelmsburg, dem Münchner Hasenbergl oder mit Mecklenburg-Vorpommern: „Richtige“ Elendsviertel sehen anders aus, sehr anders. Kommen Sie mir bitte auch nicht mit der Schweiz, in der man die Uhren nach den Abfahrts- und Ankunftszeiten der Züge stellen kann und in der die Straßen aussehen, als ob man auf ihnen das Essen servieren kann. Um alles das geht es mir hier nicht, es geht mir auch nicht darum, von einer Reise durch grandiose Landschaften und von Erlebnissen anregender kultureller Herausforderungen zu berichten. Es geht mir hier um eine skizzenhafte Bilanz dessen, was wir in unserer eigenen Gesellschaft zumeist zu wenig zu würdigen wissen. Und in welch verwöhnter Anspruchshaltung so vieles für selbstverständlich gehalten wird, – von den meisten von uns. Auch von mir selbst, wenn ich mich darüber ärgere, was („wieder“ / „nie“) nicht funktioniert.

Es gibt bei uns noch Briefkästen, auch wenn es weniger und die Leerungszeiten spärlicher werden. Das fällt einem erst dann auf, wenn es nicht mal vor den wenigen Postämtern welche gibt, geschweige denn an irgendwelchen Straßenecken.

Es gibt bei uns Fahrpläne für den öffentlichen Verkehr: Auch wenn die Ankunfts- und Abfahrtszeiten nicht immer in kausalem Zusammenhang mit den kleingedruckten Zahlen stehen, so dienen sie doch immer noch als nützliche Anhaltspunkte. Dort, wo es keine Fahrpläne gibt, fehlt jede Orientierungsmöglichkeit.

Es gibt bei uns einen flächendeckenden und durchsetzungsfähigen TÜV, der dafür sorgt, dass es weniger am Zustand der Autos liegt als am Unvermögen der Autofahrer, dass bei uns – zunehmend weniger – Menschen ums Leben im Straßenverkehr kommen.

Es gibt insgesamt ein diszipliniertes Verkehrsverhalten, das Straßenverkehrsordnung, Verkehrsampeln, Spurlinien, Einbahnstraßenregelungen und vieles andere mehr nicht als reine Fiktion aussehen lassen, über die man sich lächelnd erheben kann.

Überhaupt, so abgedroschen es auch klingen mag: Dass Pünktlichkeit, Ordentlichkeit und Sauberkeit in unserer Mehrheitsgesellschaft (immer noch) herrschen, merkt man erst dann so richtig, wenn man über einige Wochen mit deren häufigem Fehlen, beziehungsweise absichtlichem Ignorieren, konfrontiert wird. Aber nicht nur solche „altdeutschen“ Tugenden werden einem als Phantomschmerzen bewusst, auch neudeutsche „Selbstverständlichkeiten“ kommen plötzlich und unerwartet zum Vorschein.

In ganz Deutschland kommt jeder Mensch mit Englisch im Jahr 2010 einigermaßen durch. Kein deutsches „Tourist Office“ könnte es sich erlauben, auf die freundliche Frage nach dieser universalen sprachlichen Verständigungsmöglichkeit ein entschiedenes – und zudem selbstbewusstes – „Nein“ zu entgegnen. Wir schmunzeln über „Sänk ju for träveling wis Deutsche Bahn“, aber wir halten es für richtig, zeitgemäß und selbstverständlich. Wir freuen uns allenfalls über die Tatsache, dass in den Straßenbahnen Leipzigs die automatische Ansage der Haltestationen in deutscher, englischer und zudem französischer Sprache zu vernehmen ist, sogar akzentfrei.

Es mag klischeehaft klingen, aber die deutsche Frühstücks-Kultur und grüne Innenstädte mit benutzbaren Fuß- und Radwegen können einem bereits nach vier Wochen einer morgendlichen Kaffee-Croissant-Wüstenei und angesichts notwendig trickreicher Slalomtouren durch Schlaglöcheransammlungen in grauen Betonmassen abgehen. Von gänzlich unbefestigten Überlandstraßen – in der Kategorie „Nationale Fernstraßen“ – ganz zu schweigen. Aber auch obligatorische Begrüßungsschmatze auf die rechte Backe durch wildfremde Menschen – wir reden von feucht-nassen Zungenkontakten und nicht von cheek-to-cheek – sind Alltagsbeeinträchtigungen, ohne die sich entschieden angenehmer leben lässt.

Der Reisende kommt jedoch nicht nur mit wiedergewonnener Freude über die zuweilen als zu selbstverständlich gewerteten Vorzüge der deutschen Gegenwartsgesellschaft zurück. Schon bald nach Verlassen des blankgewienerten heimischen Flughafens mit seinem rasend geschwinden Gepäckband und den höflichen Passkontrolleuren überkommen den Heimkehrer dann doch auch ein wenig sehnsüchtige Anwandlungen. Sie lassen ihn das eine oder andere vermissen, was dort, von wo man ins aufgeräumte Wohlstandsland Deutschland gekommen war, selbstverständlich gewesen war: Zu jedem Kaffee das Glas Mineral(!)wasser, die W-Lan-Omnipräsenz im öffentlichen Raum, die Ladenöffnungszeiten der allgegenwärtigen „Kioske“ und Riesensupermärkte, die Fernbusse, deren Luxus jede Fluggesellschaft schäbig aussehen lässt, die bescheidenen Taxipreise (nicht nur für den Reisenden mit fremder Währung, gerade auch für den Einheimischen) und die Häufigkeit der öffentlichen Toiletten (kostenlos, wenn auch ohne Klopapier und Klobürste).

Und weil wir schon dabei sind: Mit kopfschüttelnder Wehmut registriert der nach Deutschland Zurückgekommene das (fast) vollkommene Fehlen des Bidets. Zeigen Sie mir bitte jene deutschen Hotels, jene deutschen Gaststätten, jene deutschen Privathaushalte, in denen dieses Sitzwaschbecken – diese praktische Erfindung französischer Möbelbauer im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert – zur fraglosen Standardausstattung zählt! Was sowohl im südlichen Europa, speziell in Frankreich, Griechenland, Italien, Spanien und Portugal, aber auch in der Türkei, den arabischen Ländern und in Lateinamerika zum zivilisatorischen Standard gehört, in Japan und einigen anderen asiatischen Staaten ebenso verbreitet ist, wenn auch in teilweise anderer Gestaltung, fehlt bei uns (immer noch) fast vollkommen. Selbst in Österreich und in der Schweiz sind sie häufiger anzutreffen als im Land der selbsternannten germanischen Saubermänner und Putzteufelinnen.

Trotzdem: Es ist gut, hier zu leben, zumindest als in Deutschland geborener Deutscher.