Die Erhaltungsneigung der Großwetterlage

Über Kurt Leutgebs kapriolenreichen Roman „Das Wetter“

Von Andreas TiefenbacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Tiefenbacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf welch originell-kreative Weise er es versteht, ausgefallene Ideen zu extravaganten Geschichten zu verarbeiten, hat der in Wien lebende Autor Kurt Leutgeb in bislang vier Romanen eindrucksvoll bewiesen. Ob er nun, wie in „Mensch“, über sprachliche Inversion eine Kriminalgeschichte mit materialisierten Protagonisten erzählt (statt Menschen handeln Geldscheine) oder, wie in „Schöffe“, 359 Personen als Zahlen auftreten lässt oder ob er, wie in „Die Unschärfe“, das Institut für Thanatologie im Wiener Prater, wo man sich der Entwicklung einer Sterbezeitpunktbestimmung (SZB) widmet, in den Mittelpunkt der Handlung stellt, sein Hang zum Skurril-Fantastischen ist unverkennbar und zeigt sich explizit auch im neuen Roman, der schlicht „Das Wetter“ heißt; dessen auf 34 Kapitel verteilte Handlung aber umso vielschichtiger und abwechslungsreicher ist. Denn der Autor beschränkt sich nämlich nicht nur auf die Darstellung der Lebensgeschichte des Ombrophobos und seiner Familie in Zeiten, die in jeder Hinsicht wild sind, sondern er setzt sich auch mit bedeutenden Themen der Menschheitsgeschichte wie Krieg und Vertreibung, Macht und Religion, Migration und Gewalt auseinander, mit der Zerstörung der Natur, der Manipulation des Wetters, der Kulturgeschichte des Lesens sowie einigem anderen mehr.

Aufgrund der Namen, die die handelnden Personen, die Volksgruppen, denen sie angehören, und die Gegenden, in denen sie leben, haben, sieht man sich hier einem Kosmos gegenüber, der so etwas wie eine Mischung aus antikem Weltverständnis, griechischer Sagenwelt und utopisch angehauchter, modernistischer Technokratie zu sein scheint. Und doch kommt einem vieles, das darin verhandelt wird, sehr bekannt vor. Diese fremde, exotische Welt um „die Dikaischen Inseln und die Nomische Küste“ ist der unsrigen näher, als man im ersten Moment vermuten würde, herrscht hier doch eine ähnlich konfliktgeladene Atmosphäre wie bei uns.

Dafür, dass es zwischen Dikaiern und Hybristen schließlich zum Kampf kommt, sind „Missernten und Hunger“ verantwortlich. Nur wenige Dikaier überleben und können an die Nomische Küste fliehen, welche später die Iser erobern. Und weil es „dreihundert Mal so viele Iser wie Dikaier“ gibt, stellen sie bald auch „die Bevölkerungsmehrheit in der Dikaiischen Autonomen Republik“.

Ihr Erfolg beruht auf „meteorologischen Technologien“, die von „der sogenannten internationalen Gemeinschaft“ zu ihnen gelangt sind. Dieser „Allianz der Kanne“ steht die „von alten Rivalitäten zwischen den Stämmen und Glaubensgruppen“ geprägte „Allianz der Krügler“ gegenüber. Wegen ihrer „strengen Frauenhaltung, der Zensur, der Folter, den Massensteinigungen und so weiter“ werden sie von den Kännlern, die „Leute ohne Glauben“ sind, hart kritisiert; während für Krügler, die danach trachten „zum Krug in den Himmel“ zu kommen und „alle, die vom Krugglauben“ abfallen, „mit dem Tod […] bestrafen“, „Leute ohne Glauben schwer vorstellbar“ sind.

Für „Spannungen zwischen der Kannen- und Krugwelt“ ist durch diesen Glaubensunterschied natürlich gesorgt, ein Rüstungswettlauf die Folge. „Den technologischen Vorsprung der Kanne“, die meteorologische Waffensysteme besitzt, vermag der Krug durch Spionage immer wieder auszugleichen. Dennoch bleiben die Kännler „immer ein zwei Schritte voraus“.

Dass es zwischen der Kännler- und Krüglerallianz zum Krieg kommt, liegt aber dann vor allem an den drastisch steigenden Energiepreisen und den „korrupten und diktatorischen“ Politikern, die an der Macht sind. Die Kännler bauen auf die sogenannte „Frosttaktik“. Dabei wird „die Luft in der krüglichen Hauptstadt und auf allen Verbindungswegen […] für mehrere Tage auf minus hundertzehn Grad gefroren“. Dadurch kommt es nicht nur zu einer Verknappung der Energiereserven, es sterben auf beiden Seiten auch „täglich Millionen Zivilisten“.

Die kriegerischen Auseinandersetzungen, von denen später als vom „Großen Weltkrieg“ die Rede ist, hören erst auf, nachdem man die Infrastruktur „weitgehend zerstört“, „manche Städte […] völlig ausgerottet“ und das Klima „so grundlegend verändert“ hat, „daß die Wissenschafter nicht mehr [verstehen], wie es funktioniert“. Doch bevor das der Fall ist, herrscht ein auf „rassistisch-religionistischen“ Motiven basierender „offener Krieg“. Wer sich an „dem blinden Haß gegen Leute mit anderer Rasse und Religion“ aber nicht beteiligen will, wird gnadenlos drangsaliert. Denn „Herrschaft gründet sich nun einmal auf Gewalt und [kann] nur durch Gewalt erhalten werden“.

In diesem Sinne steckt die sich bei den Kännlern an der Macht befindliche Forstbewegung „Abweichler und Forstfeinde massenhaft zur Zwangsarbeit in Lager“. Einige „Deserteure, Widerstandskämpfer, […] gewöhnliche Kriminelle“ können sich „im Wald des Elzeabupheus“ verstecken, die meisten fallen allerdings der „industriellen Massenvernichtung“ zum Opfer. Unter ihnen ist auch Ombrophobos, dessen Fährte dieser Roman genauso verfolgt wie die seiner Exfrau Nephele und seiner beiden Töchter Kannabis und Bibliokepeia. Das Glück meint es mit ihm nicht sonderlich gut. Denn während es den drei Frauen gelingt, ihre Lebenssituation zu verbessern (Kannabis steigt von der Pornodarstellerin zum „größten weiblichen Jungstar“ der Forstfilmgesellschaft auf, Bibliokepeia von der Redakteurin bei „Unsere Zeitung“ zur Ressortleiterin und die als frühere Schauspielerin „einigermaßen prominente“ Nephele von der Frau eines Außenseiters zur Gattin des einflussreichsten Mannes im Land), kommt bei Ombrophobos so etwas wie Karriere eigentlich nur im negativen Sinne zustande.

Als „verschrobener Betreiber“ eines „antiken Kuriosums“ namens „Büchergarten“ muss er nicht nur mit wenig Verständnis auskommen; Ombrophobos ist auch noch anderen Schikanen ausgesetzt, die dazu beitragen, dass er sich als „nutzloses Mitglied der Gesellschaft“ fühlt: Erstens ist es in der försterlichen Diktatur bei strenger Strafe verboten, „Bücher zu überdachen oder gar in geschlossene Räume zu bringen“; zweitens darf man zu ihrem Schutz nur Planen verwenden, die „einem stärkeren, längeren Regenguß nicht standhalten“; und drittens ist man auf „Förderung durch die Forstbehörde“ angewiesen.

Als dann Hyletokistes, der neue Mann seiner Exfrau, den Büchergärten die Subventionen drastisch kürzt, steht Ombrophobos vor dem finanziellen Ruin. Es kommt aber noch schlimmer: Aufgrund eines anonymen Hinweises aus der Bevölkerung wird er beschuldigt, „Hanfbauer, -konsument und -händler“ zu sein und schließlich wegen „gewerbsmäßigen Verkauf von Suchtgift […] zu drei Jahren Haft“ verurteilt. Danach landet er in einem „Straflager in den Bergen“, wo er „zum Wohle der Gemeinschaft“ Holz fällen muss.

Der Idee mit dem „Büchergarten“ liegt, wie Kurt Leutgeb in einem Interview mit dem „LiteRadio“ erwähnt, die arabische Redensart: „Der schönste Garten ist ein Schrank voller Bücher“ zugrunde. Auf die Panzer fahrenden Jungförster der „Kanne“, die „durch das Wettermachen immens reich und immens mächtig“ werden, Politik und Wirtschaft lenken, sämtliche Medien kontrollieren und auch noch „jederzeit […] Kanonen, Maschinengewehre, Nebelwerfer und Granatwerfer ihrer Panzer gegen Drogen- und Terrorverdächtige und andere Forstfeinde“ einsetzen dürfen, hat ihn Jean Gionos Erzählung „Der Mann, der Bäume pflanzte“ gebracht. Und dass den Förstern Panzer als „Dienstfahrzeuge bewilligt“ werden, passt genauso schön ins Konzept dieser grotesken Romanesque, wie jene zu einem „attraktiven Lebensstil“ beitragende technische Neuerung, der zufolge man „mit einem kleinen Gerät […] sein Wetter machen“ kann.

Angesichts der Tatsache, dass „die Welt […] ein Wald und der Mensch […] ihr Förster“ ist, klingt das gar nicht einmal so revolutionär. Und logisch, dass dann dort, „wo die Nichtförster die Welt regieren, […] sie sie zugrunde“ richten, weil sie eben nicht verstehen, „daß sie wie ein Wald funktioniert, wo eins ins andere“ greift. Irgendwie hängt nämlich alles von der „Erhaltungsneigung der Großwetterlage“ ab. Die ist sogar schuld, dass „der Apfel nicht weit vom Stamm fällt“.

Was das genau heißen soll? Hinweise und Erklärungen liefert auf sachlich genaue, schockierend unverblümte Weise der vorliegende Roman, der trotz mythisch-utopischer Ausrichtung beklemmend realistisch erscheint. In Bezug auf die Spiel- und Verhandlungsbreite seiner Ideen imitiert er – wettermäßig gesprochen – einen totalen April – so turbulent und wechselhaft, so konfliktreich und spannend, so voll gespickt mit wunderbaren Einfällen und zeitweilig so heftig dominiert von gesellschaftskritischen Wirbelwinden wie er ist.

Zusammen ergibt das jedenfalls ein bedeutsames Stück Literatur, über das man ähnlich ausführlich sprechen sollte, wie man das mit dem Wetter praktiziert. Leutgebs gleichnamiger Roman, der sich in gewisser Weise auch blendend dafür eignet, als Parodie auf unsere unschöne Gutmenschenwelt gelesen zu werden, würde das verdienen.

Titelbild

Kurt Leutgeb: Das Wetter.
Sisyphus Verlag, Klagenfurt 2008.
232 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783901960451

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