Der Sound der Inselstraße

Arno Schmidts Kurzgeschichten als Hörbuch

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Arno Schmidt – ist das nicht einer der unzugänglichsten Autoren der Nachkriegsliteratur? Das deutsche Gegenstück zum James Joyce des „Ulysses“ und „Finnegan’s Wake“? Das ist jedenfalls der Ruf, der ihm vorauseilt, und tatsächlich brauchen die meisten Leser eine gewisse Anlaufphase, bis sie sich in die idiosynkratische Rechtschreibung und die Zerlegung des Erzählstroms in einzelne Bruchstücke gewöhnt haben. Dazu kommt, dass beides vom Debütwerk „Leviathan“ (1949) bis hin zum posthum erschienenen Romanfragment „Julia, oder die Gemälde“ (1983) tendenziell immer komplexer wird. Man muss kaum hinzufügen, dass Schmidt zur Selbststilisierung zum großen Innovator, zum mysteriösen „Solipsisten in der Heide“ selbst nach Kräften beigetragen hat. Zum Höhepunkt der Selbstverrätselung wurde der 1334 Seiten zu DIN A 3 umfassende Romankoloss „Zettel´s Traum“ (1970), den ein Teil seiner Käufer wohl nie zu Ende gelesen hat.

Es gibt allerdings Ausnahmen von Schmidts selbstgewählter Unzugänglichkeit. Er kann auch anders – nämlich immer dann, wenn es darum geht, nicht eine Minderheit anspruchsvoller Leser, sondern ein größeres Publikum zu erreichen. Um sich finanziell über Wasser halten zu können, beginnt der Autor um 1955 mit der geradezu serienmäßigen Produktion von Zeitungsaufsätzen, Rundfunkfeatures und Kurzgeschichten. Die meisten der letzteren Kategorie entstehen zwischen 1955 und 1959, größtenteils während Schmidts Darmstädter Zeit. Hierhin hatte er sich geflüchtet, weil ihm ein Prozess wegen angeblicher Gotteslästerung und Pornografie in der Erzählung „Seelandschaft mit Pocahontas“ drohte, und er im liberalen Hessen auf mildere Richter hoffte als an seinem früheren Wohnsitz in Kastel an der Saar. In der Darmstädter Inselstraße, in der Schmidt und seine Frau Alice ihren Wohnsitz hatten, fühlten sie sich allerdings auch nicht wohl, so dass sie am Ende des Jahres 1958 nach Bargfeld bei Celle zogen, wo sie den Rest ihres Lebens verbrachten.

Für Schmidts Ausstoß von Kurzgeschichten waren die Darmstädter Jahre allerdings eine besonders produktive Zeit. Das Herzstück des Hörbuchs „Verschobene Kontinente“ bilden denn auch die „Geschichten aus der Inselstraße“. In ihnen steht das Alltägliche im Mittelpunkt. Die Beobachtungen der Ich-Erzähler sind wichtig, nicht der Plot. Es kommt durchaus zu Begegnungen zwischen den Figuren; sie erzählen sich am Fenster ihre Lebensgeschichte, streiten um Nachlässe und beginnen mit – fragilen – Liebesbeziehungen. Alle diese Beziehungen bekommen dabei etwas eigenartig Vorläufiges, Flüchtiges. Auch wenn die Erzählungen selbst glücklich enden, stehen sie immer schon unter Vorbehalt, wie es auch in Schmidts Romanen dieser Zeit keine dauerhaft glücklichen Liebesbeziehungen gibt. Damit verarbeitet Schmidt nicht zuletzt seine eigene Isolation, das Grundgefühl, in Darmstadt nur auf der Durchreise zu sein – Exile on Inselstraße, sozusagen.

Allerdings ist es meist nicht der Plot, der im Vordergrund steht, wie Schmidt überhaupt die „Handlungsreisenden“ unter den Schriftstellern ablehnte. Seine Kurzgeschichten sind Prosaminiaturen, die von der präzisen Alltagswahrnehmung und der immensen Sprachkraft des Autors leben. Eine Ausnahme bilden die acht Anekdoten um den Vermessungsrat a. D. Stürenburg, der in einem konstanten kleinen Hörerkreis „Geschichten aus seinem Arbeitsleben“ zum Besten gibt. So zugänglich und auf eine Pointe hin hat Schmidt weder früher noch später je geschrieben, auch wenn die erzählten Begebenheiten teilweise von Lieblingsautoren Schmidts wie Johann Gottfried Schnabel und Friedrich de la Motte-Fouqué „geborgt“ sind.

29 dieser Kurzgeschichten haben Jan Philipp Reemtsma, Bernd Rauschenbach und Joachim Kersten in gewohnt hoher Qualität eingelesen; 4 CDs im Hoffmann und Campe Verlag sind daraus geworden. Es ist ein Vergnügen, den Erzählungen zu lauschen, sei es mit einem Glas Wein auf dem Sofa – oder aber bei eigenen Alltagsverrichtungen. Denen, die gegen Hörbücher als bloße „Bügelbegleiter“ wettern, kann man getrost entgegenhalten, das man ja auch nichts anderes tue als die Figuren in den Geschichten – jedem seine eigene Inselstraße!

Die Aufnahme ist übrigens nicht ganz neu – zuerst erschien sie 2002 im Verlag Steinbach Sprechende Bücher und war lange vergriffen. Schön, dass sie jetzt wieder zugänglich ist.

Titelbild

Arno Schmidt: Verschobene Kontinente. mit Joachim Kersten, Bernd Rauschenbach und Jan Philipp Reemtsma.
4 CDs.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2009.
29,99 EUR.
ISBN-13: 9783455306453

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