Ryszard Kapuscinski – eine Entzauberung?

Artur Domoslawski schreibt die erste Biografie über den polnischen Jahrhundertreporter

Von Kornelia KonczalRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kornelia Konczal

Dieses Frühjahr ist das umfangreiche Buch „Kapuscinski non-fiction“ von Artur Domoslawski auf dem polnischen Markt erschienen. Innerhalb von wenigen Tagen wurde die erste Auflage in Höhe von 45.000 Exemplaren verkauft, in der Presse sind unzählige Rezensionen erschienen, im Radio und im Fernsehen wurde heftig gestritten. Es wird bereits schon wieder über diese Debatte diskutiert, die die Biografie über den Autor und Journalisten Kapuscinski ausgelöst hat und obwohl bis dato keine Übersetzungen vorliegen, wurde auch im Ausland über „Kapuscinski non-fiction“ berichtet.

Allerdings hatten nicht alle, die das Wort ergriffen – und dies betrifft sowohl die innerpolnische Debatte als auch ausländische Berichte –, Domoslawskis Buch tatsächlich gelesen. Schon dieser Umstand zeugt von der emotionsgeladenen Atmosphäre um diese Biografie, die zusätzlich von Kapuscinskis Witwe geschürt wurde: Frau Kapuscinska ging gerichtlich gegen das Erscheinen des Bandes vor, da es dem Ruf ihres verstorben Mannes schaden könne. Das Gericht teilte allerdings dieses Bedenken nicht, und die Biografie ihres Mannes konnte im Verlag „Swiat Ksiazki“ (Die Welt des Buches), einer Bertelsmann-Tochter, erscheinen, nachdem das renommierte Krakauer Verlagshaus „Znak“, in dem das Werk von Kapuscinski zurzeit in Polen verlegt wird, den Vertrag mit Domoslawski gekündigt hatte. Soviel zum Kontext, dem in den letzten Wochen oft mehr Aufmerksamkeit geschenkt wurde, als dem Buch selbst.

Der 1967 geborene Artur Domoslawski ist Publizist der linksliberalen Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“ und Autor preisgekrönter Reportagen über Lateinamerika. In den letzten zehn Jahren des Lebens von Ryszard Kapuscinski (1932-2007) war er mit ihm befreundet. Er verbrachte mit seinem Mentor – wie er ihn selbst nannte – viel Zeit, ohne ihm allerdings einige grundlegende Fragen gestellt zu haben, denen er als Biograf später nachzugehen hatte. Somit war Domoslawski einerseits prädestiniert, die erste umfassende Biografie über Kapuscinski zu schreiben, andererseits stieß er während seiner Recherche oft auf Probleme, die sein Bild des großen Reporters in Frage stellten und bittere Einsichten nach sich zogen: „Mögen mir alle verzeihen, die ein anderes Bild von Kapuscinski im Gedächtnis behielten oder eine andere Vorstellung von ihm hatten und nach der Lektüre dieses Buches werden nicht annehmen können, dass ich versucht habe, Fakten von Mythen zu trennen. Dies war nicht immer einfach und nicht immer angenehm“, schreibt der Biograf.

Domoslawski arbeitete an dem Band drei Jahre, in denen er in Kapuscinskis Archiv recherchierte, zahlreiche Reisen unternahm und über neunzig Gespräche mit seinen Freunden, Verwandten, Kritikern und Verehrern führte. Das Ergebnis ist ein faszinierendes Porträt eines außergewöhnlichen Menschen vor dem Hintergrund seiner Epoche – des kommunistischen Polens und der von Revolutionen geplagten Dritten Welt. Der Autor trat in Kapuscinskis Fußstapfen, versuchte die Welt mit seinen Augen zu sehen, um seinen Protagonisten dann doch aus der Distanz zu beobachten und seinem Meister mehrmals den Spiegel vorzuhalten. Der Autor ist zwar investigativ eingestellt, es stimmt jedoch nicht – wie einige Rezensenten behaupteten –, dass Domoslawski seinen Meister denunziert oder verfolgt, um kompromittierende Situationen in dessen Leben aufzudecken. Artur Domoslawski versucht vor allen Dingen zu verstehen, indem er Fragen stellt und – meistens – verschiedene Hypothesen und Antworten ausprobiert. Deswegen ähnelt sein Buch an vielen Stellen einem journal de recherche im Sinne von Philippe Lejeune: Der Autor erzählt dem Leser nicht nur von seinem Protagonisten, sondern auch von seiner eigenen Arbeit und Vorgehensweise, von seinen Zweifeln und Vermutungen.

Der Fokus der Biografie liegt auf Kapuscinskis Leben im kommunistischen Polen, das in der polnischen Öffentlichkeit der letzten zwanzig Jahre paradoxerweise kaum präsent war. Insofern hat der Journalist und Filmkritiker Krzysztof Teodor Toeplitz recht, wenn er sagt, dass sich in der Diskussion über die Biografie von Kapuscinski „zwangsläufig das beinahe ganze Repertoire von Unwahrheiten und Mythen kumuliert, aus denen unsere Öffentlichkeit und unser Geschichtsbild seit Jahren schöpfen“.

In „Kapuscinski non-fiction“ werden detailliert die aufeinander folgenden Stationen im journalistischen und schriftstellerischen Leben des berühmten Autors rekonstruiert: Kapuscinski arbeitete unter anderem für die Polnische Presseagentur (Polska Agencja Prasowa), wo er kurze, faktengesättigte und kompetente Berichte vorbereitete und schrieb für diverse Zeitschriften Reportagen aus Polen, Afrika, Lateinamerika und Asien. Der meist mit Reportagen aus der Dritten Welt assoziierte Kapuscinski hatte aber schon im stalinistischen Polen als Journalist gearbeitet und nicht nur darüber geschrieben, wie es war, sondern manchmal auch darüber, wie es sein sollte.

Angesichts der hochpolitisierten polnischen Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit und der weit verbreiteten Überzeugung, dass kommunistische oder sozialistische Ansichten eine Schande seien, ist Domoslawskis emphatische Schilderung von Kapuscinskis Glauben an den Kommunismus sehr aufschlussreich und ehrlich. Auch im Hinblick auf die in den letzten Jahren in Polen praktizierten hexenjagdähnlichen Aufdeckungen von ehemaligen Mitarbeitern des geheimen Sicherheitsdienstes ist Domoslawskis Herangehensweise an Kapuscinskis Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit innovativ: Der Biograf erklärt Kapuscinskis Weg in der damaligen Logik, ohne sich anachronistischer oder wohlfeil moralisierender Begriffe zu bedienen. Außerdem wirft er einen vergleichenden Blick auf die Zusammenarbeit amerikanischer Journalisten mit der CIA, um gewisse systemübergreifende Momente und Motivationen aufzuzeigen. Domoslawski gelingt es am Beispiel des true believers Kapuscinski zu zeigen, dass seiner langjährigen Zugehörigkeit zur Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei und seinem Engagement für die Schwächeren und Ärmeren ein beinahe utopischer Glaube an Gleichheit aller Menschen zugrunde lag. Es ist bloß erstaunlich, dass dieses Wissen in der polnischen Rezeption des Werkes von Kapuscinski nach 1989 beinahe völlig abwesend war. Dank Domoslawskis Schilderungen gewinnt man ein überzeugendes und konsequentes Bild von Ryszard Kapuscinski als einem Menschen mit dem Herzen am rechten Fleck.

Die Beschäftigung mit dem Menschen Kapuscinski erwies sich allerdings für Domoslawski an anderer Stelle als eine Falle, wie ihm die meisten Rezensenten vorwarfen: Nach Auffassung der Mehrheit der Kritiker hätte er die Finger von Kapuscinskis Liebesaffären und den Geschichten um seine Tochter lassen sollen. Diese Ansicht muss jedoch nuanciert werden. Das Private gehört ohne Zweifel zur Biografie; den zahlreichen Liaisons des Reporters wurden übrigens nur knapp zehn Seiten gewidmet, auf denen nicht von Kapuscinskis Frauen, sondern immer auch von ihm selbst die Rede ist. Die Schilderung des komplizierten Verhältnisses der Reporters zu seiner Tochter und ihres gebrochenen Lebens geht dann aber tatsächlich einen Schritt zu weit. Das Problem – den Preis des beruflichen Erfolgs – hätte man auch subtiler, zum Beispiel mit Hilfe von vielsagenden Auslassungen, die der aufmerksame Leser sicherlich wahrnehmen würde, behandeln können. Es ist sehr schade, dass an dieser Stelle weder die Empathie des Biografen noch die redaktionelle Betreuung seitens des Verlages aufmerkten.

Ein weiterer, kontrovers diskutierter Themenkomplex der Biografie ist das Verhältnis zwischen Fakten und Fiktionen in den Reportagen von Ryszard Kapuscinski. Dank Literaturrecherchen, Zeitzeugengespräche und Interviews mit Experten gelang es Domoslawski nachzuweisen, dass das Lokalkolorit und der literarische Effekt für seinen Mentor manchmal wichtiger waren als die Genauigkeit und Faktentreue der Angaben. Dies wäre an sich noch keine Sünde. Problematisch ist aber, dass Kapuscinski seine Leser nicht darüber informierte, dass einige der geschilderten Personen und Ereignisse zwar faktengebunden, aber doch literarisch verformt waren. Domoslawskis Erkenntnisse stellten somit die Glaubwürdigkeit des „Kaisers der Reportage“, des „Jahrhundertjournalisten“ und des „künftigen Nobelpreisträgers“ in Frage, was vielen Kritikern des Bandes wie ein Denkmalsturz vorkam.

In der Diskussion über Domoslawskis Buch wurde die Frage nach Wahrheit und Wahrhaftigkeit in Kapuscinskis Texten auf die ganze sogenannte polnische Schule der Reportage übertragen und löste eine Debatte über den Status der von Ryszard Kapuscinski und seinen jüngeren Kollegen praktizierten Textgattung aus: Darf der Reporter die beobachteten Tatsachen der Dramaturgie wegen anders anordnen, als sie sich wirklich abgespielt haben? Darf er Kleinigkeiten erfinden, beiseite schieben oder ignorieren, um seinen Text ästhetisch aufzuwerten? Wie vielschichtig das Verhältnis zwischen Wahrheit und Fiktion oder dem Literarischen und dem Faktischen sein kann, verdeutlicht ein Beispiel aus dem Band „König der Könige“ (1984, polnisch 1978): Die einzelnen Kapitel des Buches wurden unter dem Titel „Ein bisschen Äthiopien“ in der polnischen Wochenzeitung „Kultura“ veröffentlicht. Die Leser betrachteten diese parabelartige Reportage über Machtverhältnisse in der Dritten Welt als Kritik am kommunistischen Polen und sahen in Haile Selassie den damaligen Parteichef Edward Gierek. Wenn Kapuscinski Ende der 1970er-Jahre behauptet hätte, dass sein Text fiktional sei, wäre er von der Zensur nicht akzeptiert worden, denn damit wäre klar gewesen, dass es sich um eine Allegorie auf Gierek handelte. In einem Interview stellte Domoslawski diesbezüglich zutreffend fest: „Im Kommunismus musste man lügen, um die Wahrheit sagen zu können.“ Die Beziehung Kapuscinskis zu den einflussreichen Gönnern im kommunistischen Polen ist übrigens ein weiterer Grund, warum es sich lohnt, nach diesem Buch zu greifen. „Kapuscinski non-fiction“ ist nämlich eine beachtenswerte Quelle für das Leben in einem von Klientelismus und Patronage geprägten Land.

Ein Aspekt von grundlegender Bedeutung wurde aber von Domoslawski nur am Rande erörtert: die Problematik des Gedächtnisses, die in mindestens vier Konstellationen behandelt werden könnte. Das individuelle Gedächtnis der von Domoslawski interviewten Familienmitgliedern, Bekannten, Freunden und Kollegen von Kapuscinski ist für den Biograf eine der wichtigsten Quellen. Es ist nicht selten seine einzige Quelle. Und es ist auch eine Quelle, mit der Domoslawski manchmal zu unkritisch umgeht. Viel mehr Skepsis bringt er dafür gegenüber dem autobiografischen Gedächtnis von Ryszard Kapuscinski auf, indem er einige „Legenden“ seines Mentors dekonstruiert. Die Berücksichtigung der neuesten Erkenntnisse der interdisziplinären Memory Studies könnte einige seiner Aussagen entschärfen. Angebracht wäre darüber hinaus die Unterscheidung zwischen dem Gedächtnis des Menschen und dem des Reporters namens Kapuscinski. Der Autor von „Fußballkrieg“ machte nämlich meistens keine Aufnahmen, sondern lediglich – vorwiegend abends – Notizen, wohl davon ausgehend, dass das, was im Gedächtnis nicht haften bleibe, unwichtig sei. Das eigene Gedächtnis war also das wichtigste Instrument in Kapuscinskis Werkzeugkiste – ein oft ungenaues und unpräzises Instrument, dessen inhärente Eigenschaften unter anderem Selektivität und Emotionalität sind. Diese Merkmale treffen auch auf das Gedächtnis der von dem Reporter Kapuscinski befragten Zeitzeugen zu. Vielleicht lag nicht Kapuscinskis licentia poetica der Behauptung zugrunde, die Größe der im Victoria-See lebenden Fische ginge darauf zurück, dass Idi Amin die Leichen seiner Opfer ins Wasser werfen ließ. Es könnte sein, dass der Autor die Berichte seiner ugandischen Gesprächspartner für bare Münze nahm. Und es könnte sein, dass sich die befragten Ugander einem Gerücht hingaben und gar nicht wussten, dass die überdimensional großen Fische Nilbarsche waren, die von Briten in den See gebracht worden waren. Es wäre auch möglich, dass sie die wahren Begebenheiten zugunsten der schrecklichen Geschichte über Amin aus dem Gedächtnis verdrängten.

Diesen vier Gedächtniskonstellationen hätte der Biograf Domoslawski mehr Aufmerksamkeit schenken können. Aber weder dieses Defizit, noch einige Redundanzen, noch die Nichtberücksichtigung von Fotografien, die im Laufe der Zeit zu einem immer wichtigeren, wenn auch wenig beachteten Ausdrucksmittel des Reporters wurden, ändern die Tatsache, dass „Kapuscinski non-fiction“ ein wichtiges und ein mutiges Buch ist.

Artur Domoslawski: Kapuscinski non-fiction.
Swiat Ksiazki, Warschau 2010.
608 Seiten,
ISBN: 9788324719068