Investigative Seelenkunde

Über Patricia Dunckers Roman „Der Komponist und seine Richterin“

Von Ulrike WeymannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrike Weymann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im deutschen Titel des neuen Romans von Patricia Duncker klingt Friedrich Dürrenmatts „Der Richter und sein Henker“ an, und in der Tat geht es auch in Dunckers Kriminalroman weniger um das Verbrechen als um eine Seelenautopsie. Im Mittelpunkt steht die charismatische Juristin Dominique Carpentier, der leidenschaftliche Kommissar André Schweigen und der spirituelle Komponist Friedrich Grosz. Das Dreigestirn – Sternbildkonstellationen als „Landkarte, die uns den Weg zur Erlösung“ weisen, stehen im Zentrum des Romans – verbindet ihr berufliches Ethos, ihr gemeinsames Erkenntnisinteresse und die Gefühle füreinander. Das Buch will Kriminalroman, philosophischer Roman und Liebesroman in einem sein.

Ausgangspunkt der Handlung ist ein Kollektivselbstmord zur Jahrtausendwende im Schweizer Jura. Am Neujahrsmorgen stoßen Jäger im Wald auf eine Gruppe Toter – neun Erwachsene und sieben Kinder, die in einem Halbkreis angeordnet im Schnee liegen. Alle starben durch die Einnahme von Zyankali, bis auf eine Person, die offensichtlich erschossen wurde. Doch die Schusswaffe fehlt. Bereits fünf Jahre zuvor gab es zur Sommersonnenwende einen ähnlichen Fall in der Schweiz. Auch hier muss es einen Überlebenden gegeben haben, denn eine der Leichen wies ebenfalls eine Schusswunde auf, ohne dass die dazugehörende Waffe aufgefunden werden konnte. Die Ermittler gehen von einer Geheimsekte aus, der einflussreiche Personen aus Politik und Wirtschaft angehören, wie aus dem neuerlichen ‚Aufbruch‘ deutlich wird.

Was ist der Hintergrund dieser inszenierten Massenselbstmorde? Warum mussten auch die Kinder der Anhänger sterben? Sind die Mitglieder der Sekte apokalyptischen Wahnideen verfallen? Und werden sie weitere Menschen mit in den Tod reißen oder gar den Weltuntergang organisieren? Das sind die Fragen, auf deren Spuren sich im weiteren die auf Sektenwesen spezialisierte Ermittlungsrichterin und der Kommissar quer durch Europa, von der Schweiz nach Frankreich, Deutschland und Großbritannien bewegen: Die Spur aus dem Jura führt in den Süden Frankreichs, in das Weinbaugebiet Languedoc. Die Landschaftsbeschreibungen der in der Mittagssonne flirrenden Provence, die Schilderung von Stimmungen und der sowohl durch die glühende Hitze als auch durch das Irrationale und Bedrohliche der Situation hervorgerufenen Geisteszustände der sich zudem immer weiter in emotionale Abhängigkeiten verstrickenden Figuren ist überzeugend gelungen. Die Figurenkonzeption hingegen fällt recht schematisch aus, wiewohl die genderuntypischen Zuschreibungen positiv auffallen. Bei Duncker vertritt eine Frau die Rationalität, die männlichen Protagonisten hingegen verkörpern ungebrochene Emotionalität.

Dominique Carpentier, die im Roman wenig bei ihrem Namen, sondern meist bei ihrer Funktion „die Richterin“ genannt wird, ist eine kühle und distanzierte Beobachterin des Lebens. Sie ist eine Perfektionistin und Einzelgängerin, deren Unnahbarkeit provozierend wirkt. Als analytische Denkerin ist sie einem wissenschaftlichen Weltbild verpflichtet und vertritt gegen Mystifikation und Irrationalität gerichtete aufklärerische Werte. Ihre Lebensanschauung gerät jedoch im Verlauf des Romans gehörig in Turbulenzen, denn nicht nur der verheiratete André Schweigen konfrontiert sie offensiv mit seinen Gefühlen und stellt ihrer beider Lebenskonzepte in Frage, auch der charismatische Komponist umgarnt sie und gegen dessen Fänge scheint sie weniger immun.

Immer intensiver lässt sie sich zunächst auf die Gedankenwelt der Geheimgesellschaft, dann auch auf die Gefühlswelt des mutmaßlichen Sektenführers ein. Mit seiner Musik schafft es der Komponist den emotionalen Panzer der (völlig unmusikalischen) Richterin zu durchdringen, mit seiner Philosophie ihre Anschauungen ins Wanken zu bringen. Der Kriminalplot entwickelt sich zunehmend zu einem Seelenkrimi, in dem Lebenshaltungen und -ziele verhandelt werden. „Der Glaube hatte sie auf ein gespenstisches Gelände gelockt, auf dem ihr enthemmte Gefühle nackt ins Gesicht flatterten und undurchschaubare Wahnideen sich auf eine weit in die Antike zurückreichende Geschichte beriefen“. Je mehr die Richterin von der Weltsicht der Geheimsekte erfährt, deren Wurzeln bis in den ägyptischen Totenkult reichen, desto stärker muss sie eigene moralische und rechtliche Wertmaßstäbe hinterfragen. Diese Idee ist als Konzept interessant, sie bleibt jedoch in der narrativen Umsetzung zu typisiert. Die Trias von Rationalität, Spiritualität und Emotionalität wird zu schablonenhaft auf die drei Hauptfiguren projiziert, als dass die Figuren wirklich überzeugend und lebendig wirkten.

Auch die Beschreibungen der Protagonisten fallen häufig stereotyp aus, die Gespräche etwas hölzern und die Sprache – zumindest in der Übersetzung – gerät stellenweise zu blumig oder wirkt überzogen, etwa wenn es von dem verliebten Kommissar heißt: „Diese Mail, abgeschickt um 4.57 Uhr am Montagmorgen von der Privatadresse der Richterin, begrüßte André Schweigen, als er ins Büro kam, mit einem roten Ausrufezeichen wie ein Schrei. […] Sie war wieder da. Sie brauchte ihn. Und dies waren ihre Anweisungen. Wie ein Jäger, der im Wald einen Zweig knacken hört und in Gedanken die zu erwartende Beute maßlos aufbläht, stellte Schweigen eine Expedition von beträchtlichem Umfang zusammen und machte sich auf die Jagd“.

Schiefe Vergleiche irritieren ab und an den Lesefluss, etwa wenn es nach dem ersten Kuss zwischen der Richterin Carpentier und dem Kommissar Schweigen von letzterem heißt: „Schweigen war jetzt wieder hergestellt. Selbstvertrauen galoppierte durch seine Adern wie ein Pferd, das reiterlos, auf einer Welle reinster Freude über die Wiesen dahinflog“. Dennoch entwickelt das Buch einen Lesesog, denn schließlich möchte man wissen, wer das intellektuelle und erotische Turnier gewinnt und was und wer nun eigentlich hinter der Geheimgesellschaft steckt. Dem Vergleich mit dem gefeierten Debütroman der Autorin, „Die Germanistin“, hält der nunmehr sechste in deutscher Übersetzung vorliegende Roman jedoch nicht stand. Dort ging die philosophische Thematik subtil in die Narration über, hier mag sich das Philosophische nicht so recht dem belletristischen Konzept fügen.

Titelbild

Patricia Duncker: Der Komponist und seine Richterin. Roman.
Aus dem Englischen von Barbara Schaden.
Berlin Verlag, Berlin 2010.
348 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783827009159

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