Niemand muss irgendetwas

In Katrin Seddigs Romanerstling „Runterkommen“ lässt eine Handvoll Menschen alle Zwänge hinter sich und beginnt zu leben

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sie heißen Dani, Erik und Tom, Karin, Zuzanna und Doreen. In Katrin Seddigs Romandebüt „Runterkommen“ begleiten wir sie durch ihren Hamburger Alltag. Der ist alles andere als geordnet, denn sie stecken sämtlich in kleinen Krisen, bewegen sich ein wenig taumelnd durch ihre jeweiligen Leben, die auch ganz anders sein könnten, wenn man sie nur einfach ins Kraut schießen ließe wie den kleinen Garten hinter Eriks Haus.

„Menschen sind nicht das, was man über sie denkt, sie sind manchmal genau das Gegenteil, und das Schlimme ist, sie wissen selbst nicht, was sie sind und was sie wollen. Eine höhere Macht schleudert sie durch das Universum“, heißt es an einer Stelle des Romans. Nun, in diesem Fall ist diese höhere Macht eine Autorin, die ihr Handwerk erstaunlich gut beherrscht. Raffiniert dringt sie in die Biografien ihrer Protagonisten ein, erzählt in der dritten Person aus den Figuren heraus, aber doch mit dem Abstand, den es braucht, damit der Leser erkennt, dass keine der Personen, die ihm hier begegnen, einen Anspruch darauf erhebt, für das „Eine und Wahre“ zu stehen. Jede sucht. Jede irrt. Jede täuscht sich – und das oft nicht nur im anderen, sondern auch in sich selbst.

Erik, der Anwalt, mag nicht mehr stupide Scheidungsfälle bearbeiten. Dani, die Putzfrau, hält die Berührungen anderer nicht aus. Tom, der Künstler, würde gern verstanden – und von Dani geliebt – werden. Doreen, Danis Cousine und Wirtin vom „Rosenstübchen“, in dem sich ein Gutteil der an Irrungen und Wirrungen reichen Handlung abspielt, nimmt es mit der Treue nicht so genau, sehnt sich aber heimlich nach festen Verhältnissen. Zuzanna, die Tom aus Warschau nach Hamburg gefolgt ist, obwohl sie um die Gefährlichkeit des Mannes weiß, den sie in der Heimat im Stich lässt, peilt einfach nur das an, was sie für ihr Glück hält. Und irgendwann fällt auch ein Schuss und trifft den Falschen – oder doch den Richtigen zur rechten Zeit?

Ein knappes Dutzend Einzelschicksale, die miteinander in Berührung gebracht werden. Verbindungen entstehen und lösen sich wieder auf. Eriks fast erwachsene Kinder kommen ins Spiel, Orientierung suchende Teenager, denen das Elternhaus keinen Halt zu geben vermag. Doreens Mutter, die ganztägiger Pflege bedarf, wird von Erik aufgenommen, weil der nach dem Auszug seiner alkoholkranken Frau plötzlich Platz im Haus hat und der Ennui von allen Seiten nach ihm greift. Und während die Handlung wuchert, wächst draußen im Garten das Gras, entsteht ein schöner, verwunschener Ort, der alte Geheimnisse zudeckt und immer mehr Ähnlichkeit mit dem Paradies bekommt, in das es alle Seddig‘schen Figuren zieht, ohne dass sie je dort anzukommen vermöchten. Doch nahe kommen sie einem neuen, zwanglosen Zustand von Gemeinschaft immerhin. Da entsteht am Schluss des Buches im Haus des Rechtsanwalts Erik, der wieder arbeiten geht und Geld verdient, eine Art alternative Wohngemeinschaft, ein Platz, an dem jeder so sein kann, wie er gerne sein möchte, eine Art antibürgerliches Idyll, getragen von Toleranz und dem festen Willen jedes Beteiligten, endlich zu leben statt nur zu funktionieren.

Die 40-jährige, heute in Hamburg lebende Katrin Seddig bevorzugt einen knapp-lakonischen Stil und nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es um die „schönste Sache der Welt“ geht („Er wirft sie auf eine riechende Matratze, er zieht sie gekonnt aus, schiebt ihre Schenkel auseinander und steckt seinen Schwanz in sie rein. Es tut ein bisschen weh, aber ein wohliges Grunzen entfährt ihr, wofür sie sich sofort schämt. Er reitet sich rasch zum Höhepunkt und rollt dann von ihr runter.“). Dani mit ihrer panischen Angst vor den Berührungen anderer Menschen – von Aphephosmophobie sprechen die Psychologen ist dennoch sexuell aktiv, wenn sie aus der Wildnis hinter Eriks Haus dabei zusieht, wie der sich für sie befriedigt. Und Doreen, die nicht nur die etwas rauen Umgangsformen, sondern auch die Oberweite einer echten Wirtin ihr Eigen nennt, hält nicht lange hinter den Berg, wenn ihr Appetit auf das andere Geschlecht sich meldet, und das tut er ziemlich regelmäßig. Kein Wunder deshalb, wenn wir in Katrin Seddigs Internet-Blog auf eine Eintragung stoßen, in der von der Schockstarre ihrer Mutter beim Lesen des Romans die Rede ist. Der gute Rat nach der Lektüre aber sollte die Tochter nicht entmutigen: Einfach weiterschreiben müsse sie, denn sicherlich würde beim nächsten Buch dann alles besser werden.

Was das „Weiterschreiben“ betrifft, so ist der Dame beizupflichten. Allerdings sei ihr von einem „neutralen Beobachter“ versichert, dass die Tochter sich mit ihrem Romandebüt die Latte selbst sehr hoch gelegt hat. Figuren, die im Gedächtnis bleiben, viele wunderbare kleine Beobachtungen aus dem alltäglichen Beziehungswahnsinn, herrlich witzige Dialoge vor und hinter dem Tresen, der verhalten-ironische Umgang mit dem Glücksverlangen, das in jedem Menschen wohnt und seine Träume steuert, auch wenn es in der Regel mit deren Erfüllung etwas hapert – das ist fürs Erste eine Menge. Es noch zu übertreffen, wird nicht leicht sein. Aber sicher eine Aufgabe, die man gern in Angriff nimmt.

Titelbild

Katrin Seddig: Runterkommen. Roman.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2010.
382 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783871346712

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