Blizzard über der Kleinstadt

Chuck Klostermann hat mit „Nachteulen“ einen spannenden und äußerst liebevollen Roman über den alltäglichen Wahnsinn vorgelegt

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Owl ist ein kleiner, beschaulicher Ort in North Dakota mit 800 Einwohnern. Die Gegend ist gnadenlos flach, als hätte jemand die Erde mit einem Nudelholz plattgewalzt. Hier gibt es weder Discos noch Kabelfernsehen, selbst das Kino wird geschlossen. Die Leute hier sind im Großen und Ganzen umgänglich. Und sie wissen alles voneinander. Von Kindesbeinen an gehen sie in dieselbe Schule, später in dieselbe Kneipe und in dieselbe Kirche. Selbst wenn die Farmerkinder den Ort verlassen, um aufs College zu gehen, kehren sie nach dem Abschluss nach Owl zurück, wo sie dann den Rest ihres Lebens auf der Farm ihres Vaters arbeiten. Die Kleinstadt scheint auf den ersten Blick still zu stehen, nichts scheint sich hier zu verändern. Aber bei näherer Betrachtung zeigt sich der Existenzkampf der Einwohner. Der Musikjournalist und Autor Chuck Klosterman, der selbst auf einer Farm in North Dakota aufwuchs, beschreibt diese Auseinandersetzungen exemplarisch an drei unterschiedlichen Menschen.

Da ist zunächst der junge Mitch. Er ist der gefragteste Football-Held seiner Schule. Eigentlich hat er alle Eigenschaften, um ein guter Sportler zu werden: seine Schmerzgrenze ist hoch, er besitzt Entschlossenheit und braucht sich nicht großartig zu motivieren. Und doch weiß er nicht, worauf er sich so richtig freuen soll. Ja, er befürchtet sogar, verrückt zu werden.Die junge Lehrerin Julia ist gerade erst zugereist. Überhaupt sind Lehrerinnen die einzigen, unverheirateten Frauen, die in einen Ort wie Owl ziehen. Die 23-Jährige, die Geschichte unterrichtet, hat jedoch ein Alkoholproblem. An der Jukebox in der Kneipe lernt sie Vance Druid kennen und verliebt sich in den Bison-Züchter. Der alte Horace, dessen Frau schon verstorben ist, lebt dagegen seit 73 Jahren in diesem Ort. Als Kind hatte er noch den Ersten Weltkrieg in Owl erlebt. Während des Zweiten Weltkriegs, des Korea- und Vietnamkriegs hat er seine Farm nicht verlassen. Nun hängt er jeden Tag im Café herum und philosophiert darüber, wie es möglich war, vier Kriegserfahrungen verpasst zu haben.

Klosterman beobachtet seine drei Protagonisten über sechs Monate, vom September 1983 bis zum Februar 1984. Dann fegt ein Killer-Blizzard, eine Unwetterfront, mit rasender Geschwindigkeit über Owl hinweg. Danach ist alles anders als noch Stunden vor dem verheerenden Schneesturm. Selbst der unerschrockene Mitch begreift, dass es etwas ganz anderes ist, mit einem Blizzard zu kämpfen, als einem Footaball hinterher zu jagen. Wieso war es ihm eigentlich so wichtig gewesen, ein guter Spieler zu sein? Horace, der gerade mit seinem Truck unterwegs ist, erreicht nur mit Mühe und Not sein Haus. Es wird der allerbeste Abend seines Lebens.

In seinem Bestseller „Eine zu 85% wahre Geschichte“ beschrieb Klosterman eine Reise quer durch die Staaten, in seinem neuen Roman „Nachteulen“ bleibt er in der Mini-Welt von Owl. Mit kritischem Blick erzählt er von einer kleinen, abgekapselten Gemeinschaft, in der jeder seine Sache so gut wie möglich machen will und sich dabei immer wieder die Frage stellt: Wie führt man ein normales Leben? Und gibt es außerhalb von Owl noch etwas anderes? Doch der Ort spielt keine Rolle. Man lebt, mehr nicht. Ein spannender und äußerst humorvoller Roman über den alltäglichen Wahnsinn – der nicht nur in Owl herrscht.

Titelbild

Chuck Klosterman: Nachteulen. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Adelheid Zöfel.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2010.
340 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783100383129

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