Zwischen Durchhaltewillen und Aufgabe

Rolf-Dieter Müller vervollständigt mit dem letzten Band das Mammutprojekt „Das deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg“

Von Patrick MenselRSS-Newsfeed neuer Artikel von Patrick Mensel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es war ein auf 10 Bände angelegtes Mammutprojekt, das 1979 vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Freiburg ins Leben gerufen wurde. Ziel war es, den zweiten Weltkrieg in all seinen Facetten zu beschreiben – eine Aufgabe, die, gemessen an Schwierigkeit und Länge, ihresgleichen sucht. Nach fast 30 Jahren ist die Reihe nun mit dem aus zwei Büchern bestehenden 10. Band abgeschlossen.

Doch ging die Umsetzung dieses Projekts nicht immer so reibungslos wie in den letzten Jahren vonstatten – im Gegenteil: Ursprünglich war die Reihe in den 1970er Jahren als Gegengewicht zur ostdeutschen Geschichtswissenschaft im Allgemeinen und zur Buchreihe ,Deutschland im Zweiten Weltkrieg‘ im Besonderen ins Leben gerufen worden. In den ersten Jahren galt es viele Hindernisse wie politische Streitigkeiten, kuriose Episoden – wie die um Joachim Hoffmann – und Personalwechsel zu überstehen. Die Probleme wurden bewältigt, und entstanden ist eine, überaus befriedigende Reihe.

Das Thema des letzten Bandes ist der ,Zusammenbruch‘ des Deutschen Reiches 1945. Ein interessanter Fokus wird auf die Rolle der Wehrmacht gelegt,unter besonderer Berücksichtigung der Westfront. Dabei werden wenig bekannte Details gelüftet, die nicht nur für Weltkriegsforscher interessant sein sollten. Der Leser vermag anhand der Darstellung der Unterschiede zwischen Ost- und Westfront viele Geschehnisse in einem neuen Licht zu betrachten. Während sich im Westen 10.000 Mann täglich absetzten, kämpften die Soldaten an der Ostfront weiter – zu groß war die Furcht vor den Repressalien der Roten Armee, zu groß der Wunsch, Deutschland vor ihr zu bewahren. Dieser aussichtslose Kampf, verlängert von einem Durchhaltebefehl nach dem anderen, zerstörte Deutschland endgültig – das Deutschland, das die Wehrmachtsführung verteidigen wollte. Die Gräueltaten, die wenige Wochen vor Kriegsende von deutschen Soldaten an deutschen Zivilisten begangen wurden, sind zahlreicher als bisher gedacht. Zu dieser Zeit befolgte das Oberkommando der Wehrmacht Mordbefehle der SS: Sollte vor einem Haus eine weiße Fahne wehen, so seien alle männlichen Bewohner des Hauses „unverzüglich zu erschießen“. Das badische Mörsch, das sich den Franzosen ergab, wurde von deutscher Artillerie in Trümmer gelegt. Es gab wenige Lichtblicke, wie Walther Wenck, die diesem Irrsinn couragiert ein Ende setzten. Er verweigerte Befehle bezüglich des Einsatzes der 12. Armee Hitlers in Berlin und ließ viele Flüchtlinge und Soldaten zu den Amerikanern über die Elbe entkommen.

Weiterhin ist und bleibt der Luftkrieg eines der interessantesten und zugleich aufwühlendsten Endkriegsthemen. Horst Boog begibt sich in diesem Kapitel mit seinen Thesen mehr oder weniger auf Neuland. Er widerlegt die Ansicht, dass der Luftkrieg der Alliierten einzig und allein Terror als Grund hatte und der militärisch-strategische Nutzen gegen Null tendierte. Vielmehr wird präzise belegt, dass mit den Bomben mehrheitlich Militär, Industrie und Verkehr – namentlich das Eisenbahnnetz – getroffen wurden: Ein Umstand, der ganz entscheidend zur Verkürzung des Krieges beitrug. Boog widmet sich natürlich auch den menschenverachtenden Seiten der Bombardements. Die „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, die Deutsche wie Amerikaner und Briten begangen hätten, komplettieren das Kapitel und lassen eine einseitige Rezeption des Themas nicht zu. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang der Mythos über die deutschen Düsenjäger, die bei schnellerem Einsatz der Me 262 die Zerstörung deutscher Städte hätten verhindern können. Boog klärt diesen Irrtum auf. Zwar hatten die Jet-Piloten einige Abschüsse, die aber die Zahl von 200 nicht überstiegen. Dies war in den erbitterten Kämpfen durchaus ein Gewinn – absolut gesehen aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Das Projekt ist bereits jetzt DAS Nachschlagewerk für den zweiten Weltkrieg und wird für die nächsten Jahrzehnte konkurrenzlos bleiben. Hinter dieser erschöpfenden Bilanz der Weltkriegsforschung stecken pure Arbeit und unvergleichbare Anstrengung, die so schnell keine andere Institution unternehmen wird. Zwar ist es der wissenschaftliche Stil, der manche sicherlich abschrecken wird. Auch einige abstrakte Passagen machen die Lektüre gelegentlich zu einem zähen Erkenntnisprozess. Das sind nun mal die leichten Schwächen einer ansonsten rundum gelungenen Darstellung eines der dramatischsten Abschnitte der Weltgeschichte.

Titelbild

Rolf-Dieter Müller (Hg.): Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Band 10/1. Der Zusammenbruch des Deutschen Reiches 1945, Die militärische Niederwerfung der Wehrmacht.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2008.
947 Seiten, 49,80 EUR.
ISBN-13: 9783421062376

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Rolf-Dieter Müller (Hg.): Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Band 10/2. Der Zusammenbruch des Deutschen Reiches 1945, Die Folgen des Zweiten Weltkrieges.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2008.
797 Seiten, 49,80 EUR.
ISBN-13: 9783421043382

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