Die Gedanken sind frei

In Thea Dorns „Die Hirnkönigin“ sind Männer die Opfer des Sexualtriebs

Von Irmgard Johanna SchäferRSS-Newsfeed neuer Artikel von Irmgard Johanna Schäfer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kyra Berg ist Journalistin, alleinstehend, mit zahlreichen Affären, einer Affinität zum Alkohol und niemals versiegender Schlagfertigkeit. Erst kürzlich vom Feuilleton des Berliner Morgens in ein anderes Ressort gewechselt, sucht sie nach Material für eine Reihe über Berliner Mörderinnen. Ihr Freund und Kollege, der Österreicher Franz Pawlak, alleinstehend, über 50, in Kyra verliebt und in der Feuilletonredaktion verblieben, kann ihre Entscheidung nicht nachvollziehen: „Wenn du gewaltige Frauen suchst, komm zurück ins Feuilleton.“ Und lädt sie zur Premierenfeier von „Elektra“ ein. „Elektra ist keine gewaltige Frau, Elektra ist eine gewaltige Männerfantasie.[…] Eine wirklich gewalttätige Frau, eine Frau, die durch und durch skrupellos, böse ist, würde diese Gesellschaft heftiger erschüttern als alle Revolutionen.“

Und noch während Kyra ihre Mörderinnen-Recherche in Neuköllner und Weddinger Hinterhöfen fortsetzt, wird der Chef des Berliner Morgens, Richard Konrad, von seiner Frau in deren Zehlendorfer Villa geköpft aufgefunden.

Kyra stürzt sich in die Ermittlungen, lässt sich von einem Zuhälter aus Tiergarten vermöbeln, flirtet mit einem hübschen Kellner, gibt der Geliebten von Konrad auf dessen Beerdingung eine Backpfeife und schmeißt Pawlak nach dessen Liebesgeständnis aus ihrer Wohnung. Zu allem Überfluss nimmt sich die unter Mordverdacht stehende Ehefrau Konrads das Leben und deren Tochter Isabelle, das grünhaarige Gift aus den besetzten Häusern Hamburgs, stiftet nicht nur bei Kyra, sondern auch bei sämtlichen Strickstrumpftragenden Lesben-WGs Gefühlsdurcheinander. Inzwischen wird die nächste geköpfte Leiche gefunden, ein alleinstehender Bibliothekar. Eine Gemeinsamkeit zwischen den beiden Morden scheint nicht zu bestehen. Doch Kyra wittert eine Verbindung und damit eine Exklusiv-Story. Neben weiteren sexuellen Eskapaden, meist gekoppelt mit viel Alkohol und anschließendem Gedächtnisschwund – an die Nacht mit dem hübschen Kellner kann sie sich leider nicht mehr erinnern, ebenso wenig an den körperlich-geschlechtlichen Zusammenstoß mit Isabelle Konrad – geschehen der dritte und vierte Mord. Im Pergamonmuseum wird ein Nachtwächter bei der Selbstbefriedigung an den Gewandfalten der Göttin Athene hinterrücks erschlagen und eine weitere kopflose Leiche befindet sich auf den Altarstufen des Pergamonaltars.

„Flammen, Flüche
Und die dunklen
Spiele der Wollust,
Stürmt den Himmel
Ein versteinertes Haupt.

Sie warf den Kopf in den Nacken und schaute hin zu den Göttern, die rings von den Rängen dem Blut-und-Feuer-Werk Beifall spendeten. Die Götter waren Stolz auf sie, die hatte die Tat vollbracht. Sie – die Einzige.“

Ein Opfermord, denn neben den goldenen Handschellen, die die Leiche schmücken und dem fehlenden Kopf, scheint der Unterleib des Mannes explodiert zu sein.

Auf den Pfaden von Homers „Ilias“ versucht sich Kyra der Mörderin zu nähern. Doch die Wege bleiben zu verschlungen, bis sich ihr Freund Pawlak in eine Praktikantin verliebt. Als Kyra ihn enthauptet in seiner Wohnung auffindet, klären sich nicht nur ihre Gefühle zu Franz, sondern auch die Frage nach der Mörderin. Auf der Suche nach der Praktikantin, alias der Mörderin, findet Kyra nicht nur Franz’ Hirn in einem Einmachglas, sondern auch die der andern drei verlustig gegangenen Köpfe. Im Taxi verfolgt sie ihre Verdächtige in den Odenwald, und entdeckt nur einen alten Mann im Rollstuhl, der ihr schnell von seiner Lebensaufgabe, der Erschaffung des perfekten weiblichen Wesens erzählt und dann vor Schock stirbt, als Kyra ihm berichtet, dass seine Tochter, das perfekte weibliche Wesen, der Berliner Männerwelt den Kopf nicht nur verdreht, sondern gleich mitgenommen hat. Kyra findet sich gefesselt wieder, über ihr die Mörderin:

„Pallas Athene, die ruhmvolle Göttin, will ich besingen
Eulenäugig, vieles beratend, spröde im Herzen
Züchtige Jungfrau, Städtebeschirmerin, mutig zur Abwehr…“

Kyras Blut sickert an ihrem Hals herab. Die Mörderin, die Herzlose, folgt einer Stimme „und trennte das greise Haupt ihres Vaters vom Rumpf und öffnete den Schädel und weinte.“

Thea Dorns Figuren leben in Berlin. Der zugereiste österreichische Kulturliebhaber, die rasende Reporterin, der reiche Schnösel, die verklemmten Intelektuellen, der kellnernde Student, die Grünteelinken aus der Yorkstrasse, das Prekariat aus Neukölln und dem Wedding und die Heimlichen, die Nichtssagenden, diejenigen an die sich nie jemand erinnern kann. Fast alle Gesellschaftsschichten sind in „Die Hirnkönigin“ vertreten. Nische besetzt, könnte man sagen. Doch dort, wo alle Nischen aneinander stoßen, wimmelt es in Thea Dorns Roman. Er schnellt von einem Spruch zum nächsten, hält nicht stille um flüchtige Eindrücke festzuhalten, sondern überrennt mit seiner Hauptfigur nicht nur die anderen Figuren, sondern auch den Leser. Die Ereignisse wischen, wie das Blaulicht in einer stürmischen Berliner Nacht, vorbei, atemlos, schreiend, heulend und das Schöne mit den Füßen tretend. Der Tod ist das einzig Ruhige, im Tod liegt die Schönheit, in der Mörderin die Unschuld. Rasant und schlaflos wie die Stadt sind die Menschen, und über Seiten hinweg vergisst der Leser auf die Zeit zu achten, wird von Worten umbrandet wie von Verkehr. Auch der Roman endet abrupt und im Off, im Gedanken, in der Ruhe des Todes, in der Freiheit.

Titelbild

Thea Dorn: Die Hirnkönigin. Roman.
Goldmann Verlag, München 2004.
284 Seiten, 7,95 EUR.
ISBN-10: 3442055245
ISBN-13: 9783442055241

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