Die globale Zwangsreligion der Menschheit

Anmerkungen zum Religiokapitalismus

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

DAS KAPITALISTISCHE GLAUBENSBEKENNTNIS

Ich glaube an
den Markt, den Allmächtigen,
den Schöpfer des Wohlstands und des Glücks.

Und an den Profit,
seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn,
empfangen durch die Liberalisierung
entstanden aus der protestantischen Ethik
gelitten unter Kommunismus und Regulierung,
minimiert, versteuert und gespart,
hinabgestiegen in das Reich der Rezession,
auferstanden aus der Baisse,
gestiegen in Zeiten des Booms;
er ist zu Recht Teil des Marktes,
des allmächtigen Vaters
er wird kommen,
zu richten die Kapitalbesitzer und die Lohnabhängigen.

Ich glaube an private Nutzenmaximierung,
Das stetige profitable Wachstum,
die Gemeinschaft der Banken,
Vergebung von Krediten,
Auferstehung von Aktien,
und den ewigen Konjunkturzyklus.

Noch wird dieses Credo nicht öffentlich bekannt. Und doch hat jene Religion, von der hier die Rede sein soll, über sechs Milliarden Gläubige. Der Kapitalismus ist zur ersten globalen und monopolistischen Zwangsreligion der Menschheit geworden. Kein lebender Mensch auf diesem Planeten kann sich heute der religiösen Botschaft des Kapitalismus entziehen.

Seit der „real existierende Sozialismus“ vermutlich endgültig untergegangen ist, hat der Kapitalismus die Weltherrschaft angetreten. Auf Kuba und in Nordkorea versteckt er sich noch im Untergrund, aus dem er in der Volksrepublik China schon lange triumphierend auf die Straßen getreten ist, ohne das Versprechen einzulösen, die Demokratie mitzubringen. Der Kapitalismus braucht die Demokratie nicht. Noch nie zuvor in der Geschichte der Menschheit haben alle Menschen unter ein und demselben System der Lebensreglementierung gelebt. Nicht nur, dass der Kapitalismus mittlerweile als die einzig praktikable Wirtschaftsform angesehen wird, der Kapitalismus und seine Logiken regeln mittlerweile alle Lebensbereiche des Menschen. Der Kapitalismus ist allumfassend, ist absolut geworden. Für seine Milliarden von Zwangsgläubigen hat er genau jene Funktionen übernommen, welche früher die Religion innehatte.

Ausgehend von historischen Betrachtungen und Überlegungen zum Fragment „Kapitalismus als Religion“ von Walter Benjamin, sollen im Folgenden die Theologie, die Glaubensinhalte und die Glaubenspraxis dieser neuen Religion betrachtet werden.

Historische Betrachtungen

Dass das Wirtschaften, das Geld und der Gebrauch von Geld sich nicht auf Zahlen und Fakten beschränken lassen, sondern darüber hinaus eine besondere Aura haben, ist eine Tatsache, die die Menschheitsgeschichte begleitet. Das Geld und damit auch die Geldwirtschaft ist, so argumentiert Bernhard Laum, der verstorbene Marburger Altertumsforscher, in seinem Buch „Heiliges Geld“ (2006), aus den Opferpraktiken der antiken vorchristlichen Religionen entstanden. „An die Stelle des früheren ‚ganzheitlichen‘ Opfers konnten stellvertretend ausgewählte Opfergüter, an deren Stelle schließlich Symbole dieser Opfergüter, etwa Metallstücke mit dem Bild des Rindes, treten.“

Es bietet sich an, auf die Analysen des soziologischen Klassikers Marcel Mauss zu verweisen, der in seinem epochalen Werk „Essai sur le don“ gezeigt hat, wie weit der Austausch von Gaben ein „soziales Totalphänomen“ ist, das weit über das zweckrationale Menschenbild des Homo oeconomicus hinausreicht. Im Gabenaustausch, gerade im Austausch von Geld, vermischen sich Person und Gabe eng miteinander, er beinhaltet sowohl Zwangscharakter als auch Schuldverursachung zugleich.

Dass das Geld seine religiöse Herkunft nie ganz abschütteln konnte, beweist auch seine Bildsprache. Die Banknoten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sind zumeist mit götterähnlichen Figuren, häufig antiken Fruchtbarkeitsgöttinnen, versehen, worauf der Wirtschaftswissenschaftler Birger Priddat von der Universität Witten/Herdecke in seiner „Ideogrammatik des Geldes“ verweist: „Der Schein bekommt einen aufgedruckten, sichtbaren Schutzgeist, eine Beruhigungsfigur, die tief in die Fruchtbarkeitsmythologie des bildungsbürgerlich gehobenen, antiken Geistesschatzes eintaucht.“ Und noch heute können wir auf jeder US-Banknote lesen: „In God we trust“.

Der Schritt von der Geldverwertung zur Geldverehrung ist klein. Auch deshalb nimmt der Umgang mit Geld und Reichtum einen großen Platz in allen drei klassischen monotheistischen Religionen ein. In der Bibel etwa finden sich über 200 Stellen, die auf Geld und (materiellen) Reichtum Bezug nehmen. Das Alte Testament kennt bereits jene Gold- beziehungsweise Geld-Vergottung (2. Mose, 32), die im Laufe dieses Essays beleuchtet werden wird. Die bekanntesten Stellen im Neuen Testament sind die Vertreibung der Geldwechsler aus dem Tempel durch Jesus und die berühmte Sentenz aus dem Matthäus-Evangelium: „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon“ (Mt 6,24). Auch Martin Luther – interessanterweise war der altkirchliche, käuflichen Seelenfrieden versprechende Ablasshandel einer der Ausgangspunkte des lutherischen Reformeifers – kam nicht umhin, sich mit dem Verhältnis Geld-Gott auseinander zu setzen. So heißt es in seinem Großen Katechismus zum ersten Gebot: „Es ist mancher, der meint, er habe Gott und alles genug, wenn er Geld und Gut hat, verlässt und brüstet sich darauf so steif und sicher, dass er auf niemand etwas gibt. Siehe, dieser hat auch einen Gott, der heißt Mammon, das ist Geld und Gut, darauf er all sein Herz setzt, welches auch der allergewöhnlichste Abgott ist auf Erden. Wer Geld und Gut hat, der weiß sich sicher, ist fröhlich und unerschrocken, als sitze er mitten im Paradies; und wiederum, wer keins hat, der verzweifelt und verzagt, als wisse er von keinem Gott. Denn man wird ihrer gar wenig finden, die guten Mutes sind, nicht trauern noch klagen, wenn sie den Mammon nicht haben; es klebt und hängt der menschlichen Natur an bis in die Grube.“

Und auch der erste Exeget und Chefankläger des (Manchester-)Kapitalismus, Karl Marx, unterließ es nicht, in seinem Hauptwerk „Das Kapital“ – jener legendären „antikapitalistischen Bibel“ – den Kapitalismus mit religiösen Attributen zu versehen: „Statt Warenverhältnisse darzustellen, tritt er [der Wert; DK] jetzt sozusagen in ein Privatverhältnis zu sich selbst. Er unterscheidet sich als ursprünglicher Wert von sich selbst als Mehrwert, als Gott Vater von sich selbst als Gott Sohn, und beide sind vom selben Alter und bilden in der Tat nur eine Person, denn nur durch den Mehrwert von 10 Pfd.St. werden die vorgeschossenen 100 Pfd.St. Kapital, und sobald sie dies geworden, sobald der Sohn und durch den Sohn der Vater erzeugt, verschwindet ihr Unterschied wieder und sind beide Eins, 110 Pfd.St.“

Die Tatsache, dass von der Antike bis zur industriellen Revolution immer wieder Autoren Religion und Kapitalismus gedanklich miteinander verknüpft haben, verleiht der Vermutung von Walter Benjamin, dass der Kapitalismus eine neuzeitliche Form der Religion darstellt, zusätzliche Plausibilität. Um sich dieser Vermutung zu nähern, sollen im Folgenden einige Überlegungen zu Religion und zum modernen Kapitalismus angestellt werden.

Was ist Religion beziehungsweise welche Funktionen hat Religion?

Eine allgemeingültige Definition, was unter Religion zu verstehen sei, konnte bis heute nicht entwickelt werden, und es erscheint höchst unwahrscheinlich, dass dies je gelingen wird. Zu unterschiedlich sind die existenten Religionsformen, als dass durch eine Eingrenzung alle konstitutiven Inhalte, Regeln und Riten jedweder Religion beschrieben werden könnten. Um Religion soziologisch handhabbar machen zu können, sind einige Religionssoziologen, im Anschluss an Emile Durkheim und Talcott Parsons, dazu übergegangen, sich auf die Frage zu beschränken, welche Funktionen Religion in Gesellschaften und für den Einzelnen haben.

Ungeachtet der Tatsache, dass es neben diesem funktionalistischen Religionsverständnis auch einen alternativen Strang religionssoziologischen Denkens über Religion gibt, demzufolge es nicht genügt, Religion allein über ihre Funktionen zu bestimmen, sondern über spezifische Problemlösungsstrategien, die mit dem soziologisch schwer zu fassenden Phänomen „Transzendenz“ argumentieren – so im Anschluss an Max Weber, Niklas Luhmann, Martin Riesebrodt, Detlef Pollack und Matthias Koenig –, verfolge ich hier diesen ersten Strang.

Auf dem funktionalistischen Strang derzeitigen religionssoziologischen Argumentierens aufbauend, stellt der Münchner Theologe Friedrich Wilhelm Graf fest: „Religionen lassen sich als Deutungssysteme mit einem unüberbietbar hohen Allgemeinheitsanspruch verstehen. Sie vermitteln den in ihnen vergemeinschafteten Frommen ein kohärentes Bild des ‚Ganzen‘ der Wirklichkeit, das ihnen selbst die elementaren Negativitätserfahrungen des endlichen Lebens sinnhaft zu deuten erlaubt. In religiösen Deutungssystemen werden überkomplexe Wirklichkeit und chaotische Fülle geordnet.“ Religion erlaubt also Komplexitätsreduktion, und sie schafft etwas für den Einzelnen Elementares: Sinnstiftung. Das eigene Leben wird nicht zum bedeutungslosen Staubkorn im Universum.

Die zweite große funktionale Leistung der Religion liegt in ihrer Hilfe zur Lebensführung. Jede Religion hat, wie Friedrich Wilhelm Graf konstatiert, ein ganzes Set von Glaubens- und damit Lebens-Regeln aufgestellt, das für alle Lebensbereiche des Menschen Antworten parat hält: „Religiöse Deutungssysteme vermitteln mit einem bestimmten Gesamtbild der Welt auch Verhaltensmaximen und Muster idealer Lebensführung. […] Ein tugendhafter, dem Willen Gottes entsprechender Lebenswandel wird religiös prämiert, dem Frommen besondere Anerkennung durch andere Gläubige und Verehrung innerhalb der Gemeinde zugesagt oder außerweltliche Belohnung verheißen.“

Aufgrund dieser beiden funktionalen Charakteristika lässt sich Kapitalismus unschwer als Religion, zumindest als funktionales Äquivalent zu Religion beschreiben.

Was ist der moderne Kapitalismus?

„Die heutige kapitalistische Wirtschaftsordnung ist ein ungeheurer Kosmos, in den der einzelne hineingeboren wird und der für ihn, wenigstens als einzelnen, als faktisch unabänderliches Gehäuse, in dem er zu leben hat, gegeben ist. Er zwingt dem einzelnen, soweit er in den Zusammenhang des Marktes verflochten ist, die Normen seines wirtschaftlichen Handelns auf“, so lautet die klassische Sichtweise Max Webers. Diese Beschreibung hat von ihrem Grundsatz her nichts an ihrer Richtigkeit eingebüßt. Allerdings müsste man sie für den heutigen Kapitalismus wie folgt umschreiben: Die heutige kapitalistische Ordnung ist der Kosmos, in den der einzelne hineingeboren wird und der für ihn als faktisch unabänderliches Gehäuse, in dem er zu leben und zu sterben hat, gegeben ist. Er zwingt allen Menschen, weil sie unentrinnbar im Markt verflochten sind, gleichermaßen seine Logiken auf.

Weber hatte durch seine Formulierung („soweit…verflochten ist“) erkennen lassen, dass es zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch Menschen gab, die sich den Spielregeln des Kapitalismus entziehen konnten. Heute muss sich jede und jeder, egal in welchem Arbeits- oder auch Nichtarbeitsverhältnis sie oder er sich befindet, an die (vom Marktgott gegebenen) kapitalistischen Gebote halten. Das Marktmodell hat in jeden nur denkbaren wirtschaftlichen, politischen, gesellschaftlichen, kulturellen, privaten, schlechthin in jeden menschlichen Bereich seinen Einzug gehalten.

Diese immanente Autorität des Marktes – von Weber als „Zwang“ bezeichnet – kann sich nur durch diverse Heilsversprechen aufrechterhalten. Es geht eben nicht mehr um Bedürfnisbefriedigung im klassischen Sinne. Deswegen ist es auch die Lebenslüge der Volks- und Betriebswirtschaftslehre, zu suggerieren, der Kapitalismus sei allein ein ökonomisches System. Der Berliner Medienwissenschaftler Norbert Bolz hat darauf hingewiesen, „dass die Märkte der westlichen Welt viel zu komplex und raffiniert geworden sind, als dass man sie noch ‚ökonomisch‘ im Stil der Betriebswirtschaftslehre verstehen könnte. Wenn die Menschen nur einkaufen gehen würden, weil sie etwas brauchen, und wenn sie nur kaufen würden, was sie brauchen, wäre die kapitalistische Wirtschaft längst zusammengebrochen.“

Schon lange kommt es nicht mehr auf den Gebrauchswert einer Ware an. Vielmehr kauft man ein Gefühl („Aus Liebe zum Automobil“), ein Versprechen („Wir machen den Weg frei“) oder eine Utopie („Nichts ist unmöglich“). „Dass man heute nur noch Produkte verkaufen kann, die einen spirituellen Mehrwert haben, verschafft der These Evidenz, dass wir in einem postökonomischen Zeitalter leben. Die technische Immaterialität und die postmaterialistischen Werte haben die Konsumgesellschaft dramatisch verändert. Jetzt muss man Dinge verkaufen, die eigentlich unsichtbar sind. Und die Kunden melden Bedürfnisse an, die man früher an Kunst und Religion adressiert hat.“, so schreibt Norbert Bolz in seinem vielgelobten Loblied auf den „Konsumismus“.

Die Bolz’sche Beobachtung ist nicht neu. Es war Walter Benjamin, der es 1921 als erster wagte, die auch schon vor ihm artikulierte Vermutung, dass der moderne Kapitalismus Elemente einer Religion aufweise, deutlich auszusprechen.

Das Benjamin’sche Fragment und die Weber’sche Großthese

Walter Benjamins (1892-1940) Fragment „Kapitalismus als Religion“ ist eine skizzenhafte Ansammlung von Intuitionen. Er nimmt die von Max Weber entwickelte These der „Wahlverwandtschaft“ von protestantischer Ethik und kapitalistischem (Unternehmer-)Geist zur Grundlage für seine eigenen Überlegungen zum Religiokapitalismus. Weber hatte in seiner erstmals 1904/05 erschienenen Studie „Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus“ das unbeabsichtigt folgenreiche Zusammenspiel von asketisch ausgeübter Berufspflicht und ökonomischem Rationalismus herausgearbeitet: „Die religiöse Wertung der rastlosen, stetigen, systematischen, weltlichen Berufsarbeit als schlechthin höchsten asketischen Mittels und zugleich sicherster und sichtbarster Bewährung des wiedergeborenen Menschen und seiner Glaubensechtheit musste ja der denkbar mächtigste Hebel der Expansion jener Lebensauffassung sein, die wir hier als ‚Geist‘ des Kapitalismus bezeichnet haben.“

Von dieser Weber’schen Position aus geht Benjamin einen Schritt weiter. Er meint: „Im Kapitalismus ist eine Religion zu erblicken, d.h. der Kapitalismus dient essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die so genannten Religionen Antwort gaben.“ Allerdings sieht Benjamin seine eigene – auf den ersten Blick höchst verwegen anmutende – These skeptisch: „Der Nachweis dieser religiösen Struktur des Kapitalismus, nicht nur wie Weber meint, als eines religiös bedingten Gebildes, sondern als einer essentiell religiösen Erscheinung, würde heute noch auf den Abweg einer maßlosen Universalpolemik führen.“ Trotz dieser Generalskepsis – die Tatsache, dass Benjamins „Kapitalismus als Religion“ Fragment geblieben ist und erst postum veröffentlicht wurde, betont diese nur noch – glaubte Benjamin vier Züge der religiösen Struktur des Kapitalismus ausgemacht zu haben: „Erstens ist der Kapitalismus eine reine Kultreligion, vielleicht die extremste, die es je gegeben hat. Es hat in ihm alles nur unmittelbar mit Beziehung auf den Kultus Bedeutung, er kennt keine spezielle Dogmatik, keine Theologie. Der Utilitarismus gewinnt unter diesem Gesichtspunkt seine religiöse Färbung. Mit dieser Konkretion des Kultus hängt ein zweiter Zug des Kapitalismus zusammen: die permanente Dauer des Kultus. Der Kapitalismus ist die Zelebrierung eines Kultes sans [t]rêve et sans merci. Es gibt da keinen Wochentag, keinen Tag, der nicht Festtag in dem fürchterlichen Sinne der Entfaltung allen sakralen Pompes, der äußersten Anspannung des Verehrenden wäre. Dieser Kultus ist zum dritten verschuldend. Der Kapitalismus ist vermutlich der erste Fall eines nicht entsühnenden, sondern verschuldenden Kultus. […]. Ihr vierter Zug ist, dass ihr Gott verheimlicht werden muss, erst im Zenith seiner Verschuldung angesprochen werden darf. Der Kultus wird vor einer ungereiften Gottheit zelebriert, jede Vorstellung, jeder Gedanke an sie verletzt das Geheimnis ihrer Reife.“

Das Fragment, das neben den erwähnten vier Hauptzügen des Religiokapitalismus auch eine Reihe von Literaturhinweisen enthält, welche die Denkrichtungen Benjamins anzeigen (zu Sorel, Weber, Troeltsch, Unger und Landauer), endet mit der Überlegung: „Es trägt zur Erkenntnis des Kapitalismus als einer Religion bei, sich zu vergegenwärtigen, dass das ursprüngliche Heidentum sicherlich zu allernächst die Religion nicht als ein ‚höheres‘ ‚moralisches‘ Interesse, sondern als das unmittelbarste Praktische gefasst hat, dass es sich mit anderen Worten ebenso wenig wie der heutige Kapitalismus über seine ‚ideale‘ oder ‚transzendente‘ Natur im Klaren gewesen ist, vielmehr im irreligiösen oder andersgläubigen Individuum seiner Gemeinschaft genau in dem Sinne ein untrügliches Mitglied derselben sah, wie das heutige Bürgertum in seinen nicht erwerbenden Angehörigen.“

Der Kult und der kapitalistische Dekalog

Es soll und kann nicht darum gehen, zu klären, ob Benjamin „Recht“ hatte, im Sinne von Verifikation oder Falsifikation. Viel eher soll versucht werden, in Form eines Gedankenexperiments darüber nachzudenken, welche Benjaminschen Vermutungen sich bislang bestätigt oder an Plausibilität gewonnen haben, welche aus unserer heutigen Sicht hinzugekommen sind und welche heute so nicht mehr zutreffen.

Der Kult der kapitalistischen Religion, ihr Gottesdienst, ist der Konsum; ihre Tempel sind die Warenhäuser; die Börsen sind heilige Orte, Pilgerstätten für die Virtuosen des Religiokapitalismus. Der Konsum ist ein Grundpfeiler der kapitalistischen Glaubenslehre. Allerdings ist er nicht mehr passives Erwerben, sondern aktive Devotion. Im Konsum offenbart sich die kapitalistische Trinität: Markt, Profit und Wachstum. Der Markt stellt den gläubigen Konsumenten eine Ware zur Verfügung. Diese Ware ist durch den Markt und für den Markt zugleich. Durch den Konsum dieser Ware steigere ich nicht nur den Profit des Warenveräußerers, sondern auch ich profitiere davon, sowohl durch den Gebrauchswert als auch, und das zunehmend, durch den überhöhenden Symbolwert. Dank dieses doppelten Profits trage ich sowohl zum Wachstum als auch zum Wohle aller bei.

Benjamin behauptet, dass dieser kapitalistische Kultus kein Dogma und keine Theologie habe. Diese Behauptung mag zu Benjamins Lebzeiten noch ihre Richtigkeit gehabt haben, für unsere heutige Zeit gilt sie nicht mehr. Der Konsumkultus ist sich schon lange nicht mehr selbst genug. Will man die religiösen Strukturen des modernen Kapitalismus aufdecken, muss man sich auf die Suche nach Dogmen und Merkmalen jenseits des Kultes machen.

Zuerst zur Theologie, der Lehre von Gott: Der „Gott“ des Kapitalismus ist der Markt. Der Markt, der „unbewegte Allesbeweger“, regelt durch seine Gesetze das Zusammenleben der homini oeconomici und das Verhältnis zu sich und den Menschen, ganz so, wie es die zehn alttestamentlichen Gebote taten. In Analogie zum klassischen jüdisch-christlichen liest sich der kapitalistische Dekalog wie folgt:

DER KAPITALISTISCHE DEKALOG

Ich bin der Markt, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.

Du sollst nicht wider die Gesetze des Marktes handeln, denn der Markt wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Logiken nicht folgt.

Du sollst keinen Feiertag haben, denn Zeit ist Geld.

Du sollst einen höheren Lebensstandard erstreben als den deines Vaters und deiner Mutter.

Du sollst nicht töten, denn damit nimmst du deinem Gott einen Produzenten und einen Konsumenten zugleich.

Du sollst dich in keine Beziehung einlassen, die dein Streben nach Kapitalvermehrung hindern könnte.

Du sollst nicht(s) sparen.

Sei dir selbst der Nächste.

Du sollst nicht begehren irgendein Haus, denn du musst flexibel bleiben.

Du sollst begehren das neueste Auto, Kleid, Schuhwerk, Schmuck, Handy und alles, was neu ist.

Diese Zehn Gebote der Religion des Kapitalismus können und müssen im Katechismus des Kapitalismus erklärt werden:

Das erste Gebot: Ich bin der Markt, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.

Was bedeutet das?

Man soll den Markt über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Friedrich von Hayek hat mit seiner Forderung nach „Demut gegenüber den Vorgängen des Marktes“ das erste kapitalistische Gebot auf den Punkt gebracht. Der Markt fordert, so der Marburger Sozialethiker Franz Segbers, „unbedingtes Vertrauen, Gläubigkeit und Demut. Wenn Menschen sich nur dem Markt gegenüber in Demut verhalten, dann werden sie belohnt von dem gerechten, effizienten und humanen Markt – eben wie von einem ‚guten Gott‘.“ Das Andere-Götter-Verbot bezog sich im Alten Testament auf den Polytheismus der Antike. Das Andere-Götter-Verbot in der heutigen post-sozialistischen Ära des Religiokapitalismus bezieht sich auf die Überlegungen zu so genannten „Dritten Wegen“ oder anderen nicht ausschließlich marktgesteuerten Gesellschaftsentwürfen.

Das zweite Gebot: Du sollst nicht wider die Gesetze des Marktes handeln, denn der Markt wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Logiken nicht folgt.

Was heißt das?

Nur der reine Markt in seiner Allmacht vermag die Verheißung grenzenlosen Reichtums zu erfüllen. Wer sich nicht an die Spielregeln hält, bekommt früher oder später die Strafe des Marktes in Form von Exklusion zu spüren, durch Arbeitslosigkeit, Armut oder Kriminalisierung.

Das dritte Gebot: Du sollst keinen Feiertag haben, denn Zeit ist Geld.

Was bedeutet das?

Da Konsum im Kapitalismus Gottesdienst ist, ist „jeder Tag […] ein Festtag des Warenfetischismus“, wie Norbert Bolz das so unübertrefflich formulierte. Ein freier Tag, „Frei-Zeit“ schlechthin, ist nicht im Sinne des Marktes, der erstens, um mit Benjamins Worten zu sprechen, Konsum ohne Waffenruhe und ohne Gnade will, und zweitens permanente Arbeit oder Dienstleistung fordert, damit sich der Gläubige durch Entlohnung (und Verschuldung) dem Kultus hingeben kann. Der Kapitalismus ist „eine atemlose Religion“ (Birger Priddat).

Das vierte Gebot: Du sollst einen höheren Lebensstandard erstreben als den deines Vaters und deiner Mutter.

Was soll das heißen?

Die Universalidee der Konkurrenz hat auch in die Familie Einzug gehalten „Wie der Vater so der Sohn“ war vorgestern; gestern galt noch „so der Vater, besser der Sohn“, das Versprechen der Wohlstands- und Bildungsexplosion gaukelte die Glücksverheißung vor; heute gilt nicht einmal diese mehr, das vierte Gebot fordert dennoch zum kompromisslosen Konkurrenzverhalten auf, auch wenn es zunehmend weniger Aufstiegschancen gibt.

Das fünfte Gebot: Du sollst nicht töten, denn damit nimmst du deinem Gott einen Produzenten und einen Konsumenten zugleich.

Was bedeutet das?

Im modernen Kapitalismus ist jeder Mensch in seiner Doppelfunktion als Produzent und Konsument vom Markt gewollt. Tötung reduziert Produktivität, Konsum und Wachstum. Selbst der Sterbende ist noch nützlich und profitabel für die Kapitalerträge der Dienstleister lebensverlängernder Maßnahmen. Auch deswegen verstößt Selbsttötung gegen das fünfte Gebot.

Das sechste Gebot: Du sollst dich in keine Beziehung einlassen, die dein Streben nach Kapitalvermehrung hindern könnte.

Was heißt das?

Zu intensive Zwischenmenschlichkeit, insbesondere die Institution der Ehe ist beim Kapitalerwerb und bei stetiger Berufsarbeit hinderlich, verursacht Unflexibilität und Abhängigkeit. Deshalb sind Lebensabschnittspartnerschaften praktikabler, problemärmer und profitabler. Die statistische Korrelation von Scheidungsraten mit der arbeitsplatzbedingten, geografischen Trennung vom Lebenspartner belegt die Wirksamkeit des sechsten Gebots.

Das siebte Gebot: Du sollst nicht(s) sparen.

Warum das?

Nur reinvestiertes Geld ist fruchtbares Geld. Nur sofortiger Konsum verschafft Befriedigung.

Das achte Gebot: Sei dir selbst der Nächste.

Was bedeutet das?

Nur Eigennutz steigert den Gemeinnutz. Falsches „Gutmenschentum“ und Barmherzigkeit ermuntern unproduktiven Müßiggang und fördern unrealistisches Anspruchsdenken.

Das neunte Gebot: Du sollst nicht begehren irgendein Haus, denn du musst flexibel bleiben.

Was bedeutet das?

Flexibilität ist die Grundtugend des modernen Kapitalismus. Der Mensch, der arbeiten will, muss – einem Nomaden gleich – bereit sein, sein (Lebens-)Zeltlager jederzeit verlagern zu können. Dabei wäre ein Haus nur hinderlich und obendrein Kapital- und Zeitverschwendung. Die aktuelle Ent-Täuschung von weltweit Millionen von Menschen, dass die Verheißung ewig steigender Immobilienwerte eingelöst würde, belegt den harschen Geltungsanspruch des neunten Gebots.

Das zehnte Gebot: Du sollst begehren das neueste Auto, Kleid, Schuhwerk, Schmuck, Handy und alles, was neu ist.

Was bedeutet das?

Nur neue Produkte versprechen persönliches Glück und die private Verfügung „über die Totalität menschlicher Möglichkeiten, holt das Reich Gottes auf die Erde und stellt es dem Individuum zur Disposition“, so der Tübinger Soziologe Christoph Deutschmann in seinem Essay über die religiöse Natur des Kapitalismus.

Die Verschuldung durch den Kult

Das zweite Charakteristikum der kapitalistischen Religion, neben der Permanenz des Konsumkultes, ist die Verschuldung des Menschen durch eben diesen Kult. Benjamin schreibt zum Schuldcharakter des Kapitalismus: „Ein ungeheures Schuldbewusstsein, das sich nicht zu entsühnen weiß, greift zum Kultus, um in ihm diese Schuld nicht zu sühnen, sondern universal zu machen. […] Es liegt im Wesen dieser religiösen Bewegung, welche der Kapitalismus ist[,] das Aushalten bis ans Ende[,] bis an die endliche völlige Verschuldung Gottes, den erreichten Weltzustand der Verzweifelung auf die gerade noch gehofft wird.“

Die Schuld, die Verschuldung wird im Religiokapitalismus global. War diese Überlegung zu Benjamins Zeiten noch prophetisch, so ist sie heute Realität geworden. Weltweite Schulden, totale Abhängigkeit (totale Schuld) von Staaten der „Dritten Welt“ gegenüber internationalen Finanzorganisationen und totale Einzelverschuldung (Privatinsolvenz) bilden zwei Seiten derselben Medaille. Die entscheidende Differenz der kapitalreligiösen Schuld gegenüber der christlichen ist ihre Nichtsühnbarkeit. Der Markt ist im Gegensatz zu Gott nicht zur Gnade fähig. Umkehr ist nicht möglich, Buße dementsprechend auch nicht. Und, erneut nach Norbert Bolz, „so hofft der Kapitalismus als Religion nicht auf die Befreiung aus der Verzweiflung, sondern erwartet das Heil aus der Verstetigung der Verzweiflung zum Weltzustand. An die Stelle des Hoffens und Harrens tritt das Durchhalten. Die Schuld erbt sich fort als ‚Geisteskrankheit‘, nämlich im Modus der geistigen Ausweglosigkeit.“

Solus mercatus, sola fide, sola incrementum, sola bursa fama

In Analogie zur den vier reformatorischen Allein-Gültigkeitsansprüchen bilden diese neuen vier „Soli“ die Grundlage der religiokapitalistischen Ordnung:

Solus mercatus – allein der Markt ist Gott. Nur der Markt hat Autorität über seine Gläubigen.

Sola fide – allein der Kredit. Nicht zufällig wird das lateinische fides mit Glauben, aber auch mit Kredit übersetzt. Kredit bekommt man nur, wenn man dessen würdig ist (Kreditwürdigkeit), also wenn man sich im kapitalistischen Glaubenssystem bewährt hat und seine Schulden immer bezahlen konnte. Zumindest die Wahrscheinlichkeit der Zahlungsfähigkeit muss bestehen, und wenn es die Pfändungsmöglichkeit ist. Die kapitalistische Konfirmation, die subjektive Bestätigung des Glaubens und die endgültige Aufnahme in die Gemeinde der Gläubigen ist der erste Kredit (selbst Jugendliche bekommen heutzutage bei Kontoeröffnung einen Überziehungskredit eingeräumt).

Sola incrementum – allein das Wachstum. Nur durch Wachstum des Marktes wird der Mensch und sein Arbeitsplatz gerettet. Deshalb wird die permanente Verkündigung der kapitalistischen Lehre und Bekehrung der vom Glauben Abgefallenen die Evangelisation des 21. Jahrhunderts.

Sola bursa fama – allein das Börsengerücht gilt. Profit macht man auch durch Unwissenheit und Verunsicherung der Anderen, durch das Nutzen der Psychologie des Marktes. Börsengerüchte sind dabei die frohe Botschaft des Kapitalismus. Nur sie sind die Grundlage des kapitalistischen Glaubens, nicht gültiges „Wissen“.

Statt einer Zusammenfassung: Reformation, Reconquista oder Refusal

Walter Benjamin hatte resignierend festgehalten, dass Reformation oder Absage des Kapitalismus nicht möglich seien – und der Luhmann-Schüler Dirk Baecker formuliert, dieser Einschätzung zustimmend: „Wir werden den Kapitalismus nicht los werden, weil es sich bei ihm um nichts anderes handelt als um den immer wieder neu unternommenen Versuch, aus Situationen Gewinne zu ziehen (ein ‚Kapital‘), die sich in anderen Situationen produktiv einsetzen lassen. Und wir werden keine Erlösung finden, weil niemand außer uns selbst da ist, der sie uns gewähren könnte.“

Ist also die Reconquista, die Wiedereroberung des Menschen durch „wahre Religion“ (nicht durch die Religion der Ware) möglich; oder anders gefragt: Kann es eine neue Zwei-Reiche-Lehre geben? Kann man dem Markt geben, was des Marktes ist und Gott, was Gottes ist? Sicherlich nicht solange es, nach der drastischen Formulierung des katholischen Theologen Kuno Füssel, heißt: „‚Dein Reich komme, Mammon‘, das […] tägliche Gebet der neoliberalen Götzenpriester und ihrer Messdiener.“ Will man kein aktiver Anhänger dieser Götzenreligion werden, dann mag Verweigerung vielleicht doch eine, wenn auch nur sehr wenig verändernde Option sein. Wer so lebt, dass er keinen Kredit aufzunehmen braucht, weil er so leben will, dass er keinen braucht, wird dadurch nicht den Kapitalismus bezwingen, aber er befreit wenigstens sich selbst von dessen unmittelbarem Zugriff. Vor allem Kreditverweigerung dürfte zur kapitalistischen Glaubenszurückweisung beitragen.

Die Wirtschaft soll für den Menschen da sein, nicht der Mensch für die Wirtschaft. Solange diese alte Weisheit nicht (mehr) beherzigt wird, wird die Menschenopferei auf dem Altar des Marktes nicht aufhören, und Max Webers pathetische Prophezeiung könnte wahr werden: „Dann allerdings könnte für die ‚letzten Menschen‘ dieser Kulturentwicklung das Wort zur Wahrheit werden: Fachmenschen ohne Geist, Genussmenschen ohne Herz‘: dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben.“

Anmerkung: Der Beitrag ist in enger Anlehnung an etliche Passagen meines Beitrags in der Festschrift für den Münchner Alttestamentler Eckart Otto entstanden, die 2010 beim Wiesbadener Harrassowitz Verlag erschien.

Titelbild

Reinhard Achenbach / Martin Arneth (Hg.): "Gerechtigkeit und Recht zu üben" (Gen 18,19). Studien zur altorientalischen und biblischen Rechtsgeschichte, zur Religionsgeschichte Israels und zur Religionssoziologie ; Festschrift für Eckart Otto zum 65. Geburtstag.
Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2009.
542 Seiten, 98,00 EUR.
ISBN-13: 9783447061056

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