Die zweite Mitte der Welt

Tamim Ansary erzählt in „Die unbekannte Mitte der Welt“ die Weltgeschichte aus islamischer Perspektive

Von Marcus Andreas BornRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcus Andreas Born

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der afghanisch-amerikanische Historiker Tamim Ansary hat sich mit „Die unbekannte Mitte der Welt“ das Ziel gesetzt, eine Weltgeschichte aus islamischer Sicht zu zeichnen, um diese von der westlich dominierten Fassung abzugrenzen. Er beabsichtigt, dem Leser ein Mittel an die Hand zu geben mit der er eine Bildungslücke füllen soll, die trotz der Präsenz des Themas in der öffentlichen Wahrnehmung weiterhin besteht.

Das Buch liest sich flüssig. Verdächtig flüssig, könnte einwenden, wer nicht bedenkt, dass der Autor keine akademische Abhandlung vorlegt. Ebenso wenig beabsichtigt er, mit bahnbrechenden Neuigkeiten über „den“ Islam oder gar „den“ Westen aufzuwarten, sondern betont, dass er seine Informationen aus wissenschaftlichen Werken zusammengetragen hat, um sie einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dabei verweist er auch auf eigene Erfahrungen oder nimmt persönlich Stellung, wobei er sich zuweilen sogar zu bewundernden Passagen über einige historische Figuren hinreißen lässt.

Ansary erzählt eine Weltgeschichte aus islamischer Perspektive, die er gleichberechtigt neben das eurozentristische Narrativ der Geschichte legt, in dem sich der Westen als Angelpunkt der Welt wahrnimmt. Dabei holt er bis in vorislamische Zeiten aus, um dann den Akzent auf die Entstehung des Islam und dessen grundlegende Prägung durch die Jahre nach dem Tod des Propheten Mohammed zu legen. Dabei wird Ansarys Zielrichtung deutlich: Statt einer kritischen Analyse des Themas stellt er den Stoff so dar, wie er überliefert wurde. Dies zeigt sich etwa dann, wenn er die Möglichkeit einer überzeugten Anhängerschaft der vielen Götter in Mekka unerwähnt lässt und die Ablehnung des frühen Islam in der Stadt darauf reduziert, dass Verdiensteinbußen (zum Beispiel durch Prostitution) zu befürchten sind, wenn die Pilger ausbleiben.

Gerade die ersten Kapitel des Buches, in denen Ansary die Entstehung der neuen Religion bis zu ihrer weiteren Verbreitung aufzeichnet, liefern einige fürs Verständnis des Islam wesentliche Grundbegriffe und Namen. In den darauf folgenden Kapiteln geht er auf den frühen Islam ein, worauf er in späteren Teilen des Buches zurückkommt, um zu zeigen, wie sich spätere Zeiten auf diesen berufen und dort geprägte Begriffe neu auslegen. Dies stellt eine der großen Stärken des Buches dar, in dem der Autor auch die Diskussionen um den Dschihad thematisiert und die Bedeutungsvielfalt anspielt, die mitschwingen sollte, wenn man sich hierzu äußert.

Auch in anderen Punkten bemüht er sich, über die Missverständnisse, welche der Diskussion um den Islam im „Westen“ zugrunde liegen, zu informieren. Dabei geht er wiederholt auf Reizthemen wie die Rolle der Frau, das Kopftuch und die religiöse Toleranz des Islam ein. Der Tonfall, den er dabei anschlägt, ist nur bedingt als apologetisch zu bezeichnen. Vielmehr geht es ihm darum, die Eindeutigkeit, die dem Islam bei diesen Problemen zugesprochen wird, aufzulösen. Hierdurch kann er zeigen, dass die vergangenen Auseinandersetzungen um die Auslegung des Islam auch heute noch nicht abgeschlossen sind.

Damit ist eine Schwierigkeit angesprochen, mit der Ansary souverän umgegangen ist: „Den“ Islam hat es ebenso zu keiner Zeit gegeben, wie „den“ Westen oder „das“ Christentum. Immer wieder versuchen neue Wortführer, sich gegeneinander durchzusetzen. Die Aufgabe, die eine jede Geschichtsschreibung zu meistern hat, ist die Auswahl der Punkte, durch die jene fiktive Linie gezogen wird, die das Ganze zusammenhält. Bei dem Thema des Buchs kommt erschwerend hinzu, dass der Autor nicht von einem allzu großen Vorwissen seiner möglichen Leserschaft ausgehen kann und somit selbst grundlegende Aspekte erörtern muss.

Ansary verfolgt seine Geschichte des Islams von dessen Gründung über die Zeit der rechtgeleiteten Kalifen, die Dynastien der Umayyaden und der Abbasiden bis in die Moderne. Über Jahrhunderte hinweg hat sich die islamische Welt trotz Mongolen- und Kreuzrittereinfällen weitestgehend als Mitte der Welt gesehen. So beschreibt er die Haltung im andalusischen Kalifat als eine, die „aus der Gewissheit herrührte, dass ihre Kultur und Gesellschaft den Gipfel der Zivilisation darstellten – eine Haltung, wie sie Westeuropäer und Amerikaner heute gern gegenüber Bewohnern der sogenannten Dritten Welt an den Tag legen“.

Spätestens für die Zeit ab dem 17. Jahrhundert wird es jedoch schwieriger, die islamische Geschichtserzählung von der westlichen abzugrenzen, da beide durch das Übergreifen der europäischen Kulturen auf andere Kulturkreise ineinander übergehen. Hierbei informieren einige Kapitel über thematisch relevante Aspekte der westlichen Kulturen, so weit sie in die islamische Welt hineinreichen. So relativiert Ansary selbst die starke These aus seiner Einleitung, dass sich die islamische Geschichte als „vollkommen eigenständige und alternative Geschichte der Welt“ von der des Westens abgrenzen lasse.

Weitere Akzente des Buches liegen auf den laizistischen Bestrebungen in der muslimischen Welt und auf dem Konflikt um die Gründung Israels. Ansary bemüht sich, verständlich zu machen, inwiefern die Interpretationen der beteiligten Positionen aus deren Vergangenheit erwachsen sind und auf welche Weise sie zu den Konflikten geführt haben, die noch bis heute fortdauern.

Mit Verweis auf den 11. September 2001 wendet sich Ansary gegen Fukuyamas Hypothese vom Ende der Geschichte (die dieser selbst bereits revidiert hat). Der Autor gibt in einem Nachwort, das eine Skizze zu einem weiteren Buch abgegeben hätte, den Hinweis, dass die beiden Narrative, die in konkurrierender Verschlingung begriffen sind, zeigen, dass die Geschichte keinesfalls abgeschlossen ist. So begrüßenswert es auch gewesen wäre – es hätte den Rahmen von Ansarys Geschichtsnarrativ gesprengt, wenn er den im Nachwort angesprochenen Punkten mehr Raum gegeben hätte. Dennoch versetzt er seine Leser mit seiner eindringlichen Erzählung der islamischen Geschichte dazu in die Lage, die gegenwärtigen Konfliktlinien im Licht ihrer historischen Verankerung deutlicher zu erkennen.

Titelbild

Tamim Ansary: Die unbekannte Mitte der Welt. Globalgeschichte aus islamischer Sicht.
Übersetzt aus dem Englischen von Jürgen Neubauer.
Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2010.
367 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783593388373

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