Was die Kamera sichtbar macht

Gerhard Roths Fotografien aus dem „unsichtbaren Wien“ von 1986-2009

Von Heribert HovenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heribert Hoven

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ich wuchs in den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in einer bilderarmen Umgebung auf.“ So beginnt Gerhard Roths Essay „Mein fotographisches Gedächtnis“, in dem er seine Bildersucht beschreibt und begründet. Der Vater, aus Siebenbürgen stammend, hat „alles Hab und Gut“ verloren, und die Mutter kommt aus „armen Verhältnissen“, in denen es weder Gemälde oder Illustrierte noch Lexika oder gar einen Fotoapparat gibt. Fortan und ganz für sich alleine erkennt der junge Roth, dass es zwei Möglichkeiten gibt, die Flüchtigkeit der Welt zu bannen, das fotografische Bild und das Wort. Die Arbeit am Wortwerk nimmt sicher den größten Raum im Leben des Künstlers Roth ein. Daneben jedoch entstand, zunächst als Inspirationsquelle und optisches Notizbuch gedacht, ein umfangreiches fotografisches Werk, das immer mehr ein künstlerisches Eigenleben entwickelte, wenn auch in enger Parallelität zum erzählerischen Schaffen.

Die deutlichste und fruchtbarste Engführung dieser beiden künstlerischen Ausdrucksformen zeigt sich in „Die Stadt. Entdeckungen im Inneren von Wien“, dem Essayband aus dem Jahre 2009, der Roths groß angelegten „Orkus“-Zyklus beschließt und dem bereits einige der hier versammelten Fotos beigefügt sind. Wien, das einmal das glanzvolle Zentrum der Donaumonarchie beziehungsweise des Habsburger Weltreiches war, ist gleichsam der innerste Kreis des „Orkus“, ein riesiger Erinnerungsspeicher menschlichen Daseins. Während der Zyklus eine Bestandsaufnahme mit sprachlichen Mitteln unternimmt, erkundet Roth nunmehr die Archive seiner Wahlheimat, die auch Handlungsorte seiner Romane sind, mit dem Kameraauge, unter anderem das Naturhistorische und das Kunsthistorische Museum, das Uhrenmuseum, das Museum für Völkerkunde, das Josephinum, das Kriminalmuseum, den Narrenturm, das Haus der Künstler in Gugging, das Wittgenstein-Haus, Schloss Schönbrunn, die Nationalbibliothek, das Haus-, Hof- und Staatsarchiv und das Simon Wiesenthal Archiv.

So wie die großen Vertreter der Wiener Psychoanalyse das Unbewusste ans Tageslicht beförderten, so widmet sich Roth vor allem dem Vergessenen und Verdrängten. Menschliche Mumien und Knochenpräparate treten ebenso aus dem Dunkel der Depots wie Rehe und Affen und ein Hai, der in der Luft hängt. Daneben erfasst das Kameraauge das Abseitige und Kuriose und das, was gänzlich unbeachtet am Wegrand liegt. Obwohl der Fotoapparat, Roths ständiger Begleiter, Eindrücke und Momente scheinbar ohne künstlerische Absicht festhält, lassen sich auf den Fotografien Entdeckungen machen, die dem ersten Blick entgangen sind. Gerade die seriellen Fotostrecken verschaffen Tiefeneindrücke und eröffnen zugleich Fantasieräume; so etwa die zahlreichen Mauerfleckenbilder, deren zunächst abstrakte Konturen sich bisweilen ins Figürliche verwandeln, zum Rorschach-Test entwickeln oder einfach nur die Vergänglichkeit dokumentieren. Roth ist ein großer Spurensucher. Er liest die Tierspuren im Schnee, deutet Zeugnisse der Geschichte und verfolgt die Überreste der menschlichen Existenz bis dorthin, wo sie endet, auf dem Friedhof. In dem großen Fotoband, der auch einige erhellende Texte von Roth sowie wissenschaftliche Beiträge enthält, kann man Nachschau halten, aber auch selber den Versuch unternehmen, das „unsichtbare Wien“ zu dechiffrieren und dabei vielleicht auch sich selbst zu entdecken.

Titelbild

Gerhard Roth / Thomas Ballhausen: Im unsichtbaren Wien. Fotografien aus Wien von 1986 - 2009.
Christian Brandstätter Verlag, Wien 2010.
312 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783850333078

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