Wilder Osten

Margarete Zimmermanns Anthologie über „Französische Passanten im Berlin der zwanziger und frühen dreißiger Jahre“

Von Daniel KrauseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Krause

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Berlin ist beliebt bei den von Stadt zu Stadt wandernden Nomaden des frühen 21. Jahrhunderts, gerade bei den französisch Sprechenden oder Schreibenden. […] Weitgehend in Vergessenheit geraten ist, daß bereits das Berlin der Weimarer Republik zahlreiche frankophone Intellektuelle in seinen Bann zog. […] Sie erkunden als Flaneure oder als Berichterstatter für Zeitungen wie ,Paris Soir‘ oder ,Monde‘ das sich ständig wandelnde Berlin der Zwischenkriegszeit und berichten in Briefen und Tagebüchern, Reportagen, Essays und Romanen.“

Zwei Dutzend Schriftsteller dienen Margarete Zimmermann und einem studentischen Übersetzerkollektiv als Belegfall für die Berlin-Affinität französischer Intellektueller in der Weimarer Zeit. André Gide und Simone Weil sind die Berühmtesten, auch die Namen Jean Giraudouxs, Pierre Bertauxs (des Hölderlin-Forschers), Amédée Ozenfants, Yvan Golls und Philippe Soupaults sind außerhalb romanistischer Kreise bekannt. Ilja Ehrenburg wiederum hat es im Zweiten Weltkrieg als tragischer Propagandist der Sowjetunion zu zwiespältigem Ansehen gebracht. Dass Ehrenburg Frankreich aufs Engste verbunden war und Berlin ‚als Franzose‘ bereiste, ist wenig bekannt, und ein Verdienst Zimmermanns ist darin zu sehen, dass die solcherart fehlgeleitete deutsche Ehrenburg-Wahrnehmung zurechtgerückt wird.

Ein anderer Autor der Anthologie, Pierre Drieu La Rochelle, ist als bekennender Faschist und Kollaborateur mit der deutschen Besatzungsmacht in Erinnerung geblieben und dient der Neuen Rechten, diesseits wie jenseits des Rheins, bis heute als Anknüpfungspunkt. Die Weiterungen germanophilen Sentiments unter der deutschen Besatzung, die durchaus erfolgreiche Sympathiewerbung betrieb (Otto Abetz, Gerhard Heller, Ernst Jünger wären zu nennen) und nicht wenige Literaten, darunter Drieu La Rochelle, zu den berüchtigten „Europäischen Dichtertreffen“ in Weimar zu locken verstand, werden nicht dargestellt – die spätesten Beiträge dieses Bandes datieren aus den frühen und mittleren dreißiger Jahren –, doch Margarete Zimmermann weist in der Einführung zum Beitrag Drieus auf dessen Verstrickungen deutlich und kenntnisreich hin: Sein Reiseessay aus dem Jahr 1934 trägt als einziger unter den zwei Dutzend Texten Züge einer Faschismus-Apologie.

Zu den stets wiederkehrenden Motiven französischer Berlin-Betrachtung zählt die Faszination durch Berlinische Körperlichkeit, die zwei Aspekte aufweist: Einmal Gefräßig- und Fettleibigkeit, befördert durch Tempel der Fresssucht („Haus Vaterland“) und wirkungsvoll kontrastierend mit den abgezehrten Leibern Hungernder. Zum Zweiten Sport, nicht als exzentrischer Spleen, sondern als Massenvergnügen, das den ‚Neuen Menschen‘, Traum der Rechten wie Linken, vorwegnimmt. Ein weiteres Leitmotiv: Berlin als schlechthin inkommensurables, mit europäischer Urbanität nicht zu fassendes Monstrum von Modernität, das jegliches menschliche Maß durch Tempo und Ausdehnung sprengt. Auch wird Berlin als Ort architektonischer Erneuerung, des ‚Neuen Bauens‘, und gesellschaftlicher Emanzipation wahrgenommen: Frauen treten – im krassen Gegensatz zur Vorkriegszeit – weit selbstbewusster als in Frankreich auf, und Homosexuellen beiderlei Geschlechts bietet Berlin Entfaltungsmöglichkeiten wie keine Stadt in Europa. Zumal in diesem Punkt stimmen französische Reisende mit englischen Germanophilen der Zwischenkriegszeit überein, deren Eindrücke durch Wolfgang Kemp – „Foreign Affairs. Die Abenteuer einiger Engländer in Deutschland“, München 2010 – höchst eindrucksvoll dargestellt wurden: Magnus Hirschfelds „Institut für Sexualwissenschaft“ gehört zum festen Besuchsprogramm der Bildungstouristen.

Der elementare politische Gegensatz beider Nationen war neugierigem Interesse zumindest nicht abträglich: Die Schmach der Niederlage 1871 – verstärkt ums Trauma der Pariser Kommune – suggerierte Frankreichs Eliten die Notwendigkeit deutschen Spracherwerbs, denn offenkundig hatte Deutschland an politischer und militärischer Durchsetzungskraft Frankreich manches voraus. Nach 1918 wiederum mag das Bewusstsein wiedergewonnener Stärke befreiend gewirkt haben: Nun ließ sich unbefangener auf die rechtsrheinische Fremde blicken. Auch mochte die Verelendung Deutschlands in Folge von Kriegsniederlage, Bürgerkrieg und Inflation für exotischen Kitzel sorgen. Gleichwohl macht Zimmermann geltend, dass der Locarno-Vertrag (1925) eine wichtige Zäsur markiert: Als die Beziehungen sich normalisieren, rückt Deutschland neben Großbritannien zum wichtigsten ‚Partner‘ im politischen Spiel auf. Demgemäß wenden sich zusehends auch staatstragende Presseorgane mit wohlwollendem Interesse dem deutschen Nachbarn zu, und die schiere Anzahl der Reisen nach Deutschland nimmt zu.

Die Qualität der Übersetzungen muss als vorbildlich gelten: Es ist gelungen, teils hochgradig idiosynkratische Prosa in lesbares, oft idiomatisches Deutsch umzusetzen – ohne die Handschrift der Autoren zu verwischen. Zimmermanns Vorwort und Einführungstexte sind knapp gehalten, aber dicht und gehaltvoll. „Das Arsenal“ sorgt für apartes Layout, Werner Schwartz für kunstvolle Typografie. Hier ist eine rundum überzeugende Veröffentlichung gelungen, weit weniger kulinarisch und harmlos, als der Titel vermuten lässt, und eine wahre Bereicherung für den Buchmarkt.

Titelbild

Margarete Zimmermann (Hg.): "Ach, wie gût schmeckt mir Berlin". Französische Passanten im Berlin der zwanziger und frühen dreißiger Jahre.
Verlag Das Arsenal, Berlin 2010.
290 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783931109585

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