John Irving und wie er die Welt sieht

Vier Jahre mussten seine deutschsprachigen Fans auf seinen neuen Roman „Letzte Nacht in Twisted River“ warten

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der US-amerikanische Romanautor John Irving (geboren 1942 in New Hampshire) ist ein äußerst produktiver Schriftsteller, der bisher zwölf umfangreiche Romane geschrieben hat, darunter solche Bestseller wie „Garp und wie er die Welt sah“ (1978) oder „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ (1985). Vier Jahre nach seinem letzten Roman „Bis ich dich finde“ hat nun John Irving mit „Letzte Nacht in Twisted River“ sein neuestes Werk vorgelegt, das in deutscher Sprache als Taschenbuch im Diogenes Verlag erschienen ist.

Auf den 730 Seiten seines Romans entführt John Irving den Leser in seine Heimat, in ein Flößer- und Holzfällercamp in New Hampshire und in die Wildnis des östlichen US-Staates an der kanadischen Grenze. In der kleinen Holzarbeitersiedlung lebt der verwitwete Koch Dominic Baciagalupos mit seinem zwölfjährigen Sohn Daniel (Danny).

Dominic, der italienischer Abstammung ist, ist erst dreißig Jahre alt – also ein ziemlich junger Vater für einen zwölfjährigen Sohn. Seinen Lebensunterhalt verdient sich Dominic in einem Kochhaus, wo Sägewerksarbeiter und frankokanadische Wanderarbeiter zum Essen kommen. Sein bester Freund ist der trinkfeste und bärbeißige Holzfäller Ketchum, der ihn auf seinem Lebensweg ständig begleiten wird und immer mehr zur eigentlichen Hauptperson des Romans avanciert.

Da geschieht das Unglück: Danny verwechselt im Dunkeln die indianische Tellerwäscherin Jane, Freundin des örtlichen Polizeichefs, mit einem Bären und erschlägt sie mit einer schweren Bratpfanne. Vater und Sohn müssen vor dem brutalen Sheriff fliehen. Zunächst verschlägt es sie nach Boston. Hier werden sie von einer italienischen Gemeinde aufgenommen, die sie nicht wie Fremde behandelt. Während der Vater eine neue Liebe (Cookie) kennenlernt, lässt er dem Sohn eine höhere Ausbildung angedeihen.

Daniel, inzwischen 25 Jahre alt, will Schriftsteller werden. Und tatsächlich, nach Masterabschluss und seinem Erstlingsroman, bekommt er einen Job als Dozent für kreatives Schreiben. Dominics und Ketchums nächste Stationen sind Windham County, im Bundesstaat Vermont, und Toronto. Daniel ist inzwischen verheiratet und mit Frau und Kind nach Iowa gezogen. Nach fünfzig Jahren ist schließlich wieder New Hampshire der finale Handlungsort. Daniel ist bereits 59 Jahre und trägt sich mit dem Gedanken, die bewegte Lebensgeschichte aller Protagonisten aufzuschreiben. Der Leser könnte jetzt wieder von vorn beginnen.

John Irving beginnt seine Geschichte im Jahre 1954 und begleitet seine Figuren auf ihrer Odyssee in großen Zeitsprüngen bis 2005. Der Autor entwirft verschiedene Handlungsstränge, etwa die Entwicklung Daniels zum erfolgreichen Schriftsteller. Dabei hat Irving seine eigene Biografie geschickt mit eingebaut. Unzählige Charaktere bevölkern diese epische Geschichte, die alle liebevoll porträtiert sind. Mit „Letzte Nacht in Twisted River“ ist John Irving, dem Urgestein der amerikanischen Gegenwartsliteratur, wieder ein turbulenter und großartiger Roman gelungen, der, wie er selbst bekennt, strukturell das anspruchsvollste seiner Bücher ist.

Titelbild

John Irving: Letzte Nacht in Twisted River. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Hans M. Herzog.
Diogenes Verlag, Zürich 2010.
732 Seiten, 26,90 EUR.
ISBN-13: 9783257067477

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