Gefahr im Verzug

Franco Volpi und Ernst Ziegler geben Arthur Schopenhauers „Senilia“ erstmals vollständig heraus

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Streit um das geistige Eigentum tobt derzeit einmal wieder besonders heftig. Doch ist er keineswegs erst jüngst entbrannt. Hatte doch schon vor gut zweihundert Jahren der heute wie damals bekannte Königsberger Weltweise Immanuel Kant gegen Gottfried Vollmer geklagt, der seine Vorlesungen zur Physischen Geografie nicht nur unerlaubter Weise veröffentlichte, sondern sie dabei zudem – wie zumindest Kant fand – entstellte. Schopenhauer befand hingegen rund ein halbes Jahrhundert später, „[s]eitdem die Gesetzgebung den Buchhandel gegen Nachdruck geschützt hat“, sei „die Schriftstellerei geworden, was sie nie seyn sollte, ein Gewerbe, – ja, man möchte sagen ein Handwerk.“

Damit haben die beiden Meisterphilosophen die Positionen im gegenwärtigen Streit vorgezeichnet. Die Frage des geistigen Eigentums stellt sich heute allerdings weder bei Kant noch bei Schopenhauer. So ist auch die erstmalige vollständige Veröffentlichung der Notizen und Aufzeichnungen, die der alte Schopenhauer unter dem Titel „Senilia“ in verschiedenen Kladden niederschrieb, in dieser Hinsicht gänzlich unproblematisch.

Bislang waren sie nur auszugsweise in der zu Beginn des Jahrhunderts von Paul Deussen besorgten Werk-Ausgabe und im zweiten Teil des vierten Nachlassbandes zugänglich, die allerdings bereits so ziemlich alle relevanten Eintragungen bieten. Dennoch ist die nunmehr von Ernst Ziegler und dem im Jahre 2009 bei einem Unfall ums Leben gekommenen Franco Volpi ins Werk gesetzte vollständige Transkription und Publikation der Aufzeichnungen zu begrüßen. Dies nicht zuletzt, weil es den Herausgebern tatsächlich gelungen ist, „eine wissenschaftlich vertretbare, aber vor allem lesefreundliche Edition zu erarbeiten“.

Begonnen hat Schopenhauer die Niederschriften anno 1852. Dass er sie allerdings, wie Volpi im Vorwort behauptet, „Tag für Tag“ fortschrieb, lässt sich nicht belegen. Auch ist es etwas hochgegriffen, in ihnen das „philosophische Testament“ des großen Pessimisten sehen zu wollen. Tatsächlich handelt es sich vorwiegend um bloße Vorarbeiten zu teils verwirklichten, teils nur beabsichtigten Publikationen sowie um Überlegungen zu diversen Themen und Fragen, zu Philosophischem, Optischem oder zur Farbenlehre, und um, wie Volpi selbst sagt, „psychologische Beobachtungen, Beschimpfungen und Tiraden gegen seine Gegner“ sowie um „Entwürfe und Pläne, Benimmregeln und Lebensmaximen“.

Der „eine Gedanke“ der Philosophie Schopenhauers wird von all dem kaum tangiert, geschweige denn einer Revision unterzogen. Und auch die Behauptung, dass man in den Kladden einem „unerwartet glücklichen und zufriedenen alten Weisen“ begegnet, wie Volpi ebenfalls meint, lässt sich kaum nachvollziehen. Warum ist Schopenhauer dann auch im hohen Alter noch immer derart saugrob zu seinen Gegnern? Warum schmäht er dann etwa den „miserablen Scharlatan“ Hegel sogar noch in einem der letzten Einträge ebenso rabiat wie eh und je? Und warum erregt er sich dermaßen über die seiner Meinung nach allgegenwärtige Sprachverhunzung? Volpi aber erklärt die Kladden dessen ungeachtet zu Schopenhauers „nachdenkliche[r] und tröstende[r] Begleitung für den Lebensabend“.

Nein, so betulich, wie Volpi glauben machen will, sind weder Schopenhauers Aufzeichnungen, noch das Alter schlechthin, von dem Volpi phantasiert, es sei „befreit von Trieben und Gelüsten“, da sich „der alte Mensch“ – dispensiert von jeder „Fleischeslust“, „zu der er nicht mehr in der Lage ist“ – „selbst völlig genügt“ und „aus sich selbst alle Zufriedenheit und alles Glück schöpft“. Das hinkt nicht nur dem Stand der Wissenschaft hinterher, sondern wird auch von vermutlich etlichen Millionen alter Menschen lügen gestraft, die ihre Sexualität noch immer genießen – oder an deren Unerfülltheit leiden.

Nun jedoch zum alten Grantler Schopenhauer selbst und zu seinen Aufzeichnung. Sie decken so ziemlich alle seine lebenslangen Lieblingsthemen ab. So zieht er wie eh und je und immer wieder und in etlichen Variationen über die „Universitäts-Philosophie“ her, die „der Antagonist jeder ernstlich und aufrichtig gemeinten“ sei, und über die Kirche, die sich der nach Wahrheit dürstenden Menschheit und ihrem Forscherdrang entgegenstelle. Sein spärlich verteiltes Lob gilt, wie auch bereits in den zu seinen Lebzeiten publizierten Schriften, hingegen vor allem Kant, der als „gründlichste[r] Atheist, der jemals gewesen“, „bekanntlich dem Theismus den Todeßstoß gegeben“ und zudem seine „unsterbliche transcendentale Aesthetik“ hinterlassen hat.

Auch der altbekannt Frauenfeind in Schopenhauer kommt zu Wort. Einige seiner übelsten misogynen Ausfälle aus dem Text „Über die Weiber“ notierte er hier erstmals, wie etwa sein Lob der Polygamie: „Dadurch wird auch das Weib auf ihren richtigen und natürlichen Standpunkt, als subordiniertes Wesen, zurückgeführt, und die Dame, dies Monstrum europäischer Civilisation und christlich-germanischer Dummheit, mit ihren lächerlichen Ansprüchen auf Respekt und Verehrung, kommt aus der Welt“.

Das andernorts von ihm so geschätzte Prinzip des tat twam asi scheint er da gerade einmal zur Seite gelegt zu haben. Auch schlägt sich wenig von seiner Mitleidsethik durch, wenn er gegen Schutzimpfungen mittels „Kuhpocken“ wettert, „als welche alle die Schwächlinge der Kinderwelt retten, die in früheren Zeiten auf dem Probierstein der wahren Pocken erlagen und Raum ließen für die Starken, welche leben und zeugen sollten.“ Das klingt ja nun eher nach der Herrenmoral seines ethischen Antagonisten Friedrich Nietzsche.

Insbesondere in den letzten Aufzeichnungen schiebt sich die „Sprachschändung“ ins Zentrum seines Interesses, zu deren Abwehr der Sprachpurist Schopenhauer ein Buch zu publizieren plante. „Der Sprachverhunzer, gegen die ich hier zu kämpfen habe, ist Legion“, klagt er, „denn es sind alle die, welche, unter Vermittlung der Buchhändler, dem Publiko, Jahr aus Jahr ein, Zeit und Geld rauben: also sämmtliche allmeßentliche Bücherfabrikanten und jene zahllosen Schreiber der täglich, wöchentlich, monatlich und vierteljährlich auftretenden chronischen Uebel“. Doch „thue“ er, was er könne, um die etwa durch „Anhäufung der Konsonanten“ gefährdete deutsche Sprache „zu retten“.

Nicht alles, was Schopenhauer in den „Senilia“ notiert hat, ist sonderlich originell. Die Überlegung, „[w]er auf die Welt gekommen ist, sie ernstlich und in den wichtigsten Dingen zu belehren, der kann von Glück sagen, wenn er mit heiler Haut davon kommt“, hat schon Platon in seinem Höhlengleichnis weit anschaulicher entfaltet. Anderes wiederum kann man unter der Rubrik Kuriosa verbuchen: „Ob wohl je ein Mensch von großem Geiste geschielt hat? – Ich glaube nicht.“ Sartre wird seinem philosophierenden Kollegen inzwischen wohl einen nirwanischen Gruß ausgerichtet haben.

Titelbild

Franco Volpi / Ernst Ziegler (Hg.): Arthur Schopenhauer. Senilia. Gedanken im Alter.
Verlag C.H.Beck, München 2010.
374 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783406596452

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