War Nietzsche ein dezidierter Antichrist?

Heinrich Deterings Studie über die letzten Texte des Philosophen

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Nietzsches „Die fröhliche Wissenschaft“ verkündet der „tolle Mensch“ im Jahr 1882: „Gott ist todt! … Wir haben ihn getödtet!“ Hundert Seiten weiter heißt es dann, freilich erst ab 1887 in der zweiten Auflage: „Der Horizont ist wieder frei… jedes Wagnis des Erkennenden ist wieder erlaubt.“ Jetzt spricht nicht mehr der tolle Mensch, sondern ein freier Geist, selbstbewusst und zuversichtlich. Während sich Nietzsche in seinem Buch „Morgenröthe“ noch 1881 „Am Sterbebett des Christentums“ gesehen hatte, geht 1887 die Fahrt nach dem Tode Gottes hinaus in die Morgenröte und aufs offene Meer.

Kurz danach beginnt Nietzsche unter der Überschrift „Der Antichrist“ die Geschichte Jesu von Nazareth neu zu erzählen und entwirft fast gleichzeitig in „Ecce homo“ seine Selbstdarstellung in enger Auseinandersetzung mit dem Bild Jesu. Im Januar 1889 schreibt er dann unter dem Namen des Gekreuzigten an Meta von Salis: „Die Welt ist verklärt, denn Gott ist auf der Erde. Sehen Sie nicht, wie alle Himmel sich freuen?“

Wenige Tage nach der Niederschrift dieses Briefes wird Nietzsche in eine Heilanstalt eingeliefert. So ist es wohl kein Wunder, dass die Wandlungen, die sich zwischen all diesen Texten vollzogen haben, von der Forschung oft als Symptome eines ausbrechenden Wahnsinns des Philosophen gedeutet worden sind. Der Göttinger Literaturwissenschaftler Heinrich Detering indes ist dieser Spur nicht gefolgt, sondern hat die letzten Texte von Nietzsche im Zusammenhang gelesen und sieht in ihnen die Entfaltung programmatischer Vorsätze, deren Formulierung in Nietzsches Schreiben weiter zurückliegt als die möglichen Vorzeichen seiner Erkrankung. Subtil und penibel hat Detering die Schriften, in denen sich Nietzsche mit der Geschichte Jesu von Nazareth auseinandersetzt, mithin als Teile einer sich vor den Augen der Leser entwickelnden Erzählung über den Philosophen analysiert, als Arbeit am Mythos, die ihrer eigenen literarischen Logik folgt, jenseits aller Streitigkeiten um Philosophie und Krankheit: Doch zunächst kommt nach dem „Tode Gottes“, laut Detering, das Ende Richard Wagners, dessen „eiferndster Jüngling“ Nietzsche lange Zeit war, bis dann aus ihm, dem Apostel, ein Apostat wurde. Wagner hatte nämlich eine Kunst proklamiert und praktiziert, die als autonome alle herkömmlichen religiösen Systeme ersetzen und sich als kunstreligiöse Gegen-Kirche etablieren sollte. Dass dieser Erfolg nicht eingetreten ist, habe nicht zuletzt, so Detering, am Dichterphilosophen gelegen, „der dem Christus der Kunstreligion als ihr höhnender Antichrist entgegentritt“, nachdem er sich bereits seit April 1883 als Antichrist im Kampf gegen das kirchliche Christentum zu inszenieren begonnen hatte.

Nach dem Ende der Arbeiten an der Anti-Bibel über den Anti-Erlöser Zarathustra, der Abrechnung mit Wagners Kunstreligion und dem Resümee seiner Spätphilosophie in „Götzen-Dämmerung“ wendet sich Nietzsche wieder dem Christentum zu und entwirft, wie oben angedeutet, den Katechismus des Antichristen. Dieser besagt kurz gefasst: Alles ist gut, was das Gefühl der Macht, den Willen zur Macht und die Macht selbst im Menschen erhöht. Schlecht ist alles, was aus der Schwäche kommt. Glück ist, wenn die Macht wächst und Widerstände überwunden werden. Das Verderblichste am Christentum ist für den Antichristen insbesondere das Gebot der Mitleidens, führt Detering ferner aus, weil mit Mitleid eine Einbuße an Leben und Lebens-Energie verbunden sei. Die Alternative zum Christentum sieht Nietzsche in einer Religion ohne Sünde und ohne Selbst-Betrügerei, zum Beispiel im Buddhismus, in einer Religion ohne Askese und moralischen Zwang, in einem „Jenseits von Gut und Böse“.

Polemische Notizen zur Gestalt Jesu finden sich in Nietzsches nachgelassenen Schriften, wie Detering bemerkt, von Anfang der 1880er-Jahre an in beträchtlichem Umfang, in denen deutlich etwas von der Irritation zu spüren ist, die die Jesus-Gestalt auf den Philosophen ausgeübt hat. Vor allem ein Zug wird von Nietzsche herausgearbeitet: das Ressentiment des Schwachen. Als triumphale Verkörperung des Starken tritt dagegen Nietzsches fiktionales alter ego, Zarathustra, der Anti-Christ par excellence, auf.

Jesus schickt, behauptet Nietzsche, alles in die Hölle, was ihm widerstrebt. Dagegen würden Arme, Dumme, Kranke, Weiber, Huren, Gesindel und Kinder von Jesus bevorzugt. Unter ihnen fühlt er sich wohl. Außerdem bricht er den Stab über alles Schöne, Reiche, Mächtige und spürt Hass gegen die Lachenden. Nietzsche will uns glauben machen, meint Detering, dass er mit Jesus gründlich fertig sei, als er im Sommer 1888 parallel zur „Götzendämmerung“ den „Antichrist“ in Angriff nimmt. Gleichwohl möchte er ergründen, ob nicht doch etwas vom damaligen Geschehen in der Gegenwart lebendig geblieben sei oder wieder lebendig gemacht werden könne. Infolgedessen erzählt der Antichrist ,sein‘ Leben Jesu, so wie er es sieht und versteht, wobei er sich dagegen wehrt, dass die gegenwärtige Wirklichkeit zugunsten einer zu künftigen entwertet werden soll.

Unversehens wird dabei das Bild des Erlösers zweideutig, so dass am Ende nichts mehr übrig bleibt von Hass und Abscheu gegenüber dem „bösesten aller Menschen.“ Stattdessen ist nun die Rede vom „kindlichen Idiotentum“. Der Galiläer wird dabei nicht nur allen jüdischen und christlichen Deutungsversuchen entzogen, sondern auch dem Schema, das der Antichrist zuvor entworfen hat.

Aus der abwehrend verneinenden Entwertung von Welt und Leben, legt der Autor dar, wird nun die schöpferisch-bejahende Umwertung. Der Glaube lebt, aber er wehrt sich gegen Formeln. Jesu Größe gegenüber dem platonisierenden Paulus und seinen Ressentiments liegt für Nietzsche darin, dass er „Nicht Feind sein kann“. Nietzsches Dekret lautet: „Ich verurteile das Christentum“, nimmt jedoch Jesus selbst von dieser Verurteilung aus. Die für die jüdische und christliche Theologie wesentlichen Begriffe wie Schuld, Strafe, Sühne. Lohn, Verheißung, Kommen des Reiches Gottes – die einen sind auf die Vergangenheit, die anderen auf die Zukunft gerichtet –, fehlen in der Verkündigung des vom Antichrist beschriebenen Jesus. An ihre Stelle treten Begriffe, die die Gegenwart umschreiben, denn die von Jesus bejahte und verklärte Welt ist vergangenheits- und zukunftslos.

Energisch stellt Nietzsche die Opposition zwischen dem Evangelium Jesu und der Schrift der Evangelien heraus und hält das Himmelreich für einen Zustand des Herzens, aber nicht für nicht für „etwas, das über der Erde oder nach dem Tode kommt“. Es geht ihm um den auf Dauer gestellten erfüllten Augenblick der „unio mystica“.

Das echte, das ursprüngliche Christentum wird zu allen Zeiten möglich sein, liest der Autor bei Nietzsche heraus. Es handelt sich dabei nicht so sehr um einen Glauben, sondern um ein anderes Sein, nicht um die Scheidung von Welt in eine wahre und in eine scheinbare nach der Art des Christentums und nach Auffassung von Kant. Der tragische Künstler sagt dionysisch „Ja“ zu allen Fragwürdigkeiten und Furchtbaren, also amor fati sein Schicksal annehmen und lieben. Der Jesus des Antichrist praktiziert mithin ein Jasagen zur ungeschiedenen einen Welt und gerät damit in Opposition zu Priestern und Heiligen der modernen Kunstreligion. Mit Recht nennt der Antichrist Jesus nun den frohen Botschafter. Er erscheint nicht mehr als Realitätsflüchtling und Religionsstifter, vielmehr als Überwinder der eigenen „décadence“. Er ist ein freier Geist und verkörpert das Leben versus Religion, Weltverneignung versus Selbstbejahung. Seiten vorher hatte der Antichrist Jesus dies alles noch unterstellt, was er nun allein den Priestern und der etablierten Religion anlastet. So hat sich das Jesus-Bild im Laufe des Schreibprozesses gewandelt. Detering erblickt darin ein ironisches Rollenspiel, in dem der Philosoph sein seit Jahren entwickeltes Prinzip des „Dionysischen“ ein letztes Mal gegen das ihm verhasste Christentum mobilisiert. Die frohe Botschaft, die Jesus verkündet, bedeutet also Jasagen zur Gesamtheit des Lebens. Dafür stand bei Nietzsche zunächst Dionysos. Nun erscheint Jesus als eine sanfte Variante des griechischen Gottes. Dagegen verblasst der „Übermensch“, ebenso der verkörperte Wille zur Macht und der große Gedanke der ewigen Wiederkunft. Eindeutig geht Nietzsche, nach Deterings Ansicht, über seine bisherigen Schriften hinaus, über „Zarathustra“ und „Fröhliche Wissenschaft“.

Detering macht deutlich, dass Nietzsches „Antichrist“ viel Energie darauf verwendet, um die Frage zu beantworten, wie sich das Bild von Jesu zeitlos-glücklich verklärtem Leben mit seinem Sterben vereinbaren lässt. Für Nietzsche starb der frohe Botschafter wie er lebte und wie er lehrte, nicht um die Menschen zu erlösen, sondern um ihnen zu zeigen, wie man zu leben hat.

Der Literaturwissenschaftler zeigt außerdem, wie in der Komposition der Dionysos-Dithyramben sich diese Umwertung als poetischer Prozess nachvollzieht und lässt in einem weiteren Kapitel „neunzehn Jahrhunderte Missverständnis“ Revue passieren.

Mit seinem großen fortlaufenden, aus einzelnen Abhandlungen, Schriften und Notizen bestehenden Text, beginnend mit dem Antichrist von der Un-Heilsgeschichte von vorgeblicher Sünde und falscher Erlösung wollte der Philosoph Friedrich Nietzsche, so fasst Detering seine Recherchen am Ende zusammen, das ursprüngliche Recht des Evangeliums wieder zur Geltung bringen und findet auf diese Weise einen „Hintereingang zum verlorenen Paradies“.

Heinrich Detering, zweifellos ein exzellenter Nietzsche-Kenner, hat seinen Autor gründlich gelesen und sich in ihn mit viel Gespür hineingedacht, nicht ohne hin und wieder auch einen Blick auf die umfangreiche Sekundärliteratur zu werfen. Seine Studie mit ihren eigenwilligen und kühnen Interpretationen, die ungeahnte Möglichkeiten der Hermeneutik fast bis zu ihren Grenzen ausschöpft, ist so aufregend und anregend, dass man das Buch gar nicht aus der Hand legen möchte. Zudem ist es eine Bereicherung nicht nur für unser herkömmliches Nietzsche-Verständnis, sondern auch für unser bisheriges „Verständnis jener Moderne, die sich – in Literatur, Kunst, Philosophie und Theologie – auf diesen „Dichter-Philosophen“ beruft. Vor allem aber dürfte nun klar geworden sein, dass der Philosoph Friedrich Nietzsche, zu Unrecht in den Ruf gekommen ist, ein überzeugter, kaltschnäuziger Antichrist zu sein. Er hat lediglich das Christentum auf seine Weise ausgelegt, und ihm auf Erden und in der Welt neue Geltung zu verschaffen versucht.

Titelbild

Heinrich Detering: Der Antichrist und der Gekreuzigte. Friedrich Nietzsches letzte Texte.
Wallstein Verlag, Göttingen 2010.
224 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783835306356

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