Das nicht eingelöste Versprechen der Revolution

Zu Stefan Rinkes „Revolutionen in Lateinamerika

Von Klaus-Jürgen BremmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Jürgen Bremm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwei große Beispiele habe man mit der amerikanischen und französischen Revolution vor Augen, schrieb der aus Venezuela stammende Revolutionär Francesco de Miranda im Jahre 1799 an einen Freund und fügte folgenden Rat hinzu: Imitieren wir umsichtig die erste; verhindern wir mit großer Vorsicht die fatalen Folgen der zweiten. Das blutige Beispiel des benachbarten Haiti vor Augen, hatten Angehörige der hispano-amerikanischen Pflanzerschicht wie Miranda genug Anlass, den Weg zur Unabhängigkeit vom spanischen Mutterland mit aller Vorsicht einzuschlagen. Zu groß waren die sozialen Spannungen innerhalb der äußerst heterogenen kolonialen Gesellschaften in den spanischen Vizekönigreichen, die außer den privilegierten Weißen noch eine große Mehrheit aus freien oder versklavten Afroamerikanern sowie nennenswerten Resten der indigenen Urbevölkerung aufwiesen.

In ihrer Mehrzahl sahen sich Mirandas Standesgenossen immer noch als ein gleichberechtigter Teil Spaniens und durchaus nicht als Kolonie. Die Forderungen nach größerer Beteiligung an der politischen Administration ihrer Länder und der Aufhebung spanischer Handelsmonopole standen noch lange an erster Stelle. Mirandas frühe Versuche einer antikolonialen Erhebung im Gouvernement Venezuela scheiterten daher ausnahmslos an der fehlenden Unterstützung seiner Standesgenossen und dem Desinteresse der indigenen Bevölkerung, die oftmals auch durch königliche Privilegien vor dem ökonomischen Zugriff der kreolischen Pflanzer geschützt waren.

Erst das Machtvakuum, das die französische Besetzung Spaniens und die Vertreibung König Ferdinands VII. seit 1808 auch in den transatlantischen Kolonien hinterließ, setzte in den vier amerikanischen Vizekönigreichen einen irreversiblen Prozess der politischen Abnabelung vom fernen Mutterland in Gang. Der Berliner Historiker und Spezialist für die Geschichte Lateinamerikas Stefan Rinke spannt in seiner konzisen Darstellung der lateinamerikanischen Revolutionen den historischen Bogen von den späten politischen Reformen der bourbonischen Monarchie seit der Mitte des 18. Jahrhundert bis hin zur Konsolidierung der neuen lateinamerikanischen Staatenwelt um 1830, einer stürmischen Epoche, die auch symbolisch mit dem frühen Tod des desillusionierten Simon Bolivar am 17. Dezember 1830 kurz vor seiner geplanten Abreise ins europäische Exil ihren Abschluss fand.

Den Entkolonisierungsprozessen in Haiti, in Venezuela-Columbien, in Argentinien und in Brasilien widmet Rinke jeweils eigene Kapitel und verfolgt dabei auch die meist tragische Rolle der bekanntesten Protagonisten der süd- und mittelamerikanischen Unabhängigkeit. So endete Miguel Hildalgo, der prominenteste mexikanische Freiheitskämpfer im Jahre 1811 auf dem Schafott, nachdem der frühere katholische Priester mit seiner rund 80.000 Mann zählenden Rebellenarmee aus Tagelöhnern und Indianern monatelang die Region um das Bergbaugebiet Guanajuato in Atem gehalten hatte. Francesco de Miranda wiederum verstarb 1816 in spanischer Gefangenschaft, nachdem ihn sein früherer Mitstreiter Simon Bolivar an den Gegner ausgeliefert hatte, ein Tiefpunkt in der Laufbahn des immer noch als Libertador gefeierten Helden, wie Rinke unmissverständlich klarstellt.

Waren es aber tatsächlich Revolutionen, so fragt der Verfasser, die nach jahrzehntelangen Kämpfen schließlich zum Zusammenbruch der 300 Jahre alten kolonialen Ordnung in Hispano-Amerika führten? Wie war es überhaupt möglich, dass eine so lange und heftige Ausübung von Gewalt, in die zum Teil auch die nicht privilegierten Schichten auf Grund unterschiedlichster Interessen und Versprechungen verwickelt waren, ohne sichtbare Auswirkungen auf die soziale und wirtschaftliche Struktur des Halbkontinents blieb? Was war überhaupt das einigende Element der lateinamerikanischen Revolutionen, die schließlich in einem Akt der Fragmentisierung neue Staaten ohne Nationen auf dem Boden der alten spanischen Vizekönigreiche hervorbrachten?

Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten oder Brasilien war es keinem dieser vier ehemaligen Vizekönigreiche gelungen, ihren territorialen Zusammenhalt in die Unabhängigkeit zu retten. Zu stark waren nicht nur die Rivalitäten unter den lokalen Potentaten, den so genannten Caudillos, sondern auch die sozialen Verwerfungen innerhalb der postkolonialen Gesellschaften. Ein Nationalgefühl bildete sich vorerst nirgendwo aus. Durchaus mit darstellerischem Geschick versteht es Rinke, die Entwicklungen in den einzelnen Regionen in meist chronologischer Reihenfolge zu schildern und gleichwohl in einen großen Zusammenhang zu stellen. Insgesamt wirkt das jedoch ermüdend, da sich zu viele Geschehnisse grundsätzlich ähnelten und die Aktionen einer Vielzahl von Personen an unterschiedlichsten Orten trotz erfreulich guter Kartenausstattung nur mühsam nachvollzogen werden kann. Erstaunlich wirkt hingegen die offenkundige Scheu des Autors vor statistischem Zahlenmaterial. So bleibt seine Darstellung sozialer Zusammenhänge oft eher abstrakt und letztlich ohne große Aussagekraft. Mögliche Änderungen in den hispano-amerikanischen Gesellschaften erfasst sie daher kaum.

Rinkes Geschichte der Revolutionen bleibt in erste Linie eine politische Geschichte. Seine Aussage tritt dennoch klar hervor: Dem politischen Umsturz in Süd- und Mittelamerika folgte keine soziale Revolution, keine Befreiung der Sklaven und trotz einiger Versuche auch keine Aufhebung des alten Indigenentributs. Obwohl sich die hispano-amerikanischen Eliten der damals weltweit zirkulierenden Rhetorik von Freiheit, Gleichheit und Selbstbestimmung gerne bedienten, bestand auch nach der Unabhängigkeit der neuen lateinamerikanischen Republiken die Kolonialität der gesellschaftlichen Strukturen noch lange fort. So blieb eigentlich bis heute das Versprechen der Revolution und das sei, so Rinke, immerhin nicht wenig.

Titelbild

Stefan Rinke: Revolutionen in Lateinamerika. Wege in die Unabhängigkeit 1760 - 1830.
Verlag C.H.Beck, München 2010.
392 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783406601422

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