Gott in die Karten Schauen

Alban Nikolai Herbsts Lyrik folgt „Der Engel Ordnungen“

Von Jost EickmeyerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jost Eickmeyer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eines ist vorab festzuhalten: Der Dichter, um dessen Lyrik es hier geht, ist weder jung noch marktgängig, kein massenwirksamer Intellektueller mit gemeinverträglichem DDR-Hintergrund, auch kein Fräuleinwunder der jüngsten deutschen Dichtung, das sich mit Charme und Lebenshilfe-Lyrik ein geheiztes Plätzchen in Anthologien erschreiben will. Der Mann ist ein Biest. Ein offensiv stolzer, bisweilen arroganter Berserker, der mit seinem Machismo grundsätzlich kein Blatt vor den Mund nimmt. Er ist Verfasser Science Fiction-verdächtiger Großromane, in deren sperrigen Blöcken sich postmoderne Doppelgänger-, Herausgeber- und Autorfiktionen rhizomartig zu einem Zerrspiegelkabinett verdichten. Im „Schreibheft“ eckte er 2002 an, als es die brennenden Wolkenkratzer gemeinsam mit Barbara Bongartz, des 11. September als Kunstwerk aufzufassen wagte. In seiner Art verdarb er es sich mit dem größten Teil des so genannten Literatur-Betriebes, so dass ihn manche Verlage und manche Feuilletons meiden wie den Leibhaftigen – Nebenschauplätze dieses Konflikts sind immer wieder in Herbsts Weblog zu besichtigen (www.albannikolaiherbst.twoday.net). Und der hat nun einen Lyrikband publiziert? Obendrein unter diesem Titel? Weisen doch „der Engel Ordnungen“ unmissverständlich auf den emphatischen Eingang der Duineser Elegien und messen sich gar mit ihrem Verfasser Rainer Maria Rilke, dem beständigen Säulenheiligen vieler Germanistik-Seminare und bürgerlicher Regalwände.

Wer sich mit diesen Fragen begnügt und die Achseln zuckt, setzt die betriebsblinde Perspektive auf Alban Nikolai Herbst als Person lediglich fort – und wird seiner Lyrik nicht gerecht. Wer hingegen das schmale Bändchen aus dem Axel DielmannVerlag aufschlägt, neugierig geworden womöglich durch Anselm Kiefers „Lilith“ auf dem Umschlag, dem könnte es ergehen wie dem Rezensenten: Er gewinnt womöglich beim Lesen mehr und mehr den Eindruck, am Haus mit der Nummer 666 vorbeigelaufen und nun irrtümlich beim Nachbarn des Biestes, das anzutreffen er eigentlich erwartet hatte, eingekehrt zu sein.

Mit über einhundert Lyrica, gefolgt von den aus zweiundzwanzig Einzelgedichten bestehenden Scelsi-Variationen, versammelt der Band eine bemerkenswerte Fülle unterschiedlicher Formen: vom epigrammatischen Zweizeiler bis zum mehrseitigen Zyklus, von reimlosen und ungleichmäßig rhythmisierten modernen Formen bis zu streng gebauten Sonetten, Terzinen-Strophen und sogar regelmäßigen Hexametern. Immer wieder zeigt sich der Musikkenner im Dichter, wenn Formen der einen in die andere Kunst entlehnt werden. Am deutlichsten ist dies wohl in den, am besten separat zu lesenden, Sclesi-Variationen zu spüren, für die Herbst seine Hommage an den eigenwilligen italienischen Komponisten in eine kunstvoll-makellose Rondo-Form gegossen hat. Insgesamt fällt die Präsenz des Reimes auf, eine programmatische obendrein, die jeden Verdacht auf unzeitgemäßen Klassizismus von vornherein ausschalten will:

Die Wiederkehr des Reims, der Formen
bricht wie ihr Bruch vorher die

Normen.

So knapp und schlagend formuliert das Gedicht „Übertretungen“ den poetologischen Hintergrund all dieser Gedichte: eine Avantgarde, die gerade deshalb vorn ist, weil sie hinter den Bruch eines verbindlichen Formkanons zurückgreift. Es geht nicht um ein bloß postmodernes Nebeneinander virtuos beherrschter Formalia, sondern – die durch Zeilenbruch (!) markierte Absetzung von „Normen“ deutet es an – die Widerständigkeit von Formen, die neue Kraft dann entfalten, wenn es längst Normalität geworden ist, sie zu ignorieren. Dass diesem scheinbar konservativen Rückgriff tatsächlich innovative Energie innewohnt, belegt die Variationsbreite der „Engel Ordnungen“, etwa wenn das chthonische Ur-Vertrauen einer alten Frau im „Zitronenbaum auf Stromboli“ ins epische Versmaß gekleidet – und so einen Bogen zu Herbsts jüngstem Langgedicht geschlagen wird („Aeolia“ / Harald R. Gratz: „Stromboli“. Bielefeld: Edition Jesse 2008). Oder wenn im nur zehnzeiligen „Sterbegedichtchen“ der Endreim gerade verweigert und somit das Wiedersehen von Vater und Sohn durch das „nein“ des Todes durchgestrichen wird. Oder wenn im nur auf den ersten Blick einfachen „Volkslied“ der eingängige Jambus der Vierzeiler nun gerade nicht vom Endreim zu einem Lied ‚nach alter Väter Sitte‘ ergänzt wird, sondern dem zweiten Blick eine Parodie des Genres inklusive „Wölklein“, „Ringlein“, „Gitarre“ und „Herz“ präsentiert, die freilich wiederum unversehens kippt, wenn das lyrische Ich zum Schluss „klamm und wohl“ nach dem Schläger greift.

Der hier nur knapp angedeuteten formalen Fülle steht die inhaltliche des Bandes keineswegs nach. Immerhin sind hier Gedichte aus mehr als zwanzig Jahren versammelt, die aus aller Welt sprechen, aus der Bronx wie von Usedom, aus Indien wie aus Braunschweig, Barcelona und Belgrad, aus Italien wie aus einem Berliner Straßencafé – dabei jedem Ort seine besondere Begebenheit, seinen besonderen Ton verleihend. Aus der Regnitz steigt gar – mit leichter Goethe-Reminiszenz – eine leibhaftige Wasserfrau empor. Deutlich persönliche Gedichte („Tote Mutter“; „Nach der Geburt“; „Und hatte seine Zeit, ein Jedes“), die gleichwohl stets ins Allgemeine weisen, stehen neben Reflexionen über Themen, die den Dichter auch in seinem Blog und manchem Essay umtreiben und die er nun lyrisch bedenkt. Gebündelt erscheinen sie bereits im Eingangsgedicht, einem der stärksten des Bandes, „Es saßen drei Engel beisammen“. Fünf dreizeilige Strophen zeigen die Titel gebenden Himmelsboten – beim Kartenspiel. Doch statt mit Karten spielen sie mit Kindern. Aus den dichten Umschreibungen bemerkt der Leser erst nach und nach, dass hier der Engel des Todes, der des Lebens und der „gute“ ins viel berufene kosmologische ‚Spiel‘ vertieft sind. Über die reimende Identifikation von Karten-„Stoß“ und „Schoß“ gelingt Herbst die enge Verflechtung von Schöpfung und Geburt, religiöser Dimension und individueller Leiblichkeit, in deren „Morgenrot“ die Kinder im einzeln gesetzten Schlussvers des Gedichtes nun die drei Engel überstrahlen.

Religion und Sexualität – damit sind zwei der wiederkehrenden, der grundierenden Themen dieser Lyrik aufgerufen. Sie begegnen einzeln oder kombiniert, unterschiedlich gewichtet, zum Beispiel immer wieder in der Figur Mariens, mal als „Pietà“, mal als nährendes Pendant zum denken Gott: „Maria“, am berückendsten wohl als „islamische Maria“ , wenn Herbst in wenigen Versen die Verkündigung mit dem Propheten Mohammed kurzschließt, der seinerseits den Koran über das Ohr „empfängt“. Wer einen konzisen Grund für den Dialog der abrahamitischen Religionen sucht, kann in diesem Gedicht fündig werden. Anders, stärker ins Erotische gewendet und zugleich deutlicher mit religiösem Vokabular arbeitet „Opfer“, und auch da, wo er es nicht vermuten würde, etwa im phantasievollen Gedankenspiel des Dichters mit dem ‚anderen Leben‘ („Wie es wäre“) stößt der Leser auf religiös, gar biblisch geprägte Bilder. Stets sekundiert vom Islam als zweiter Bezugsgröße, grandios in den kunstvoll gefügten Strophen von „Es ist ein Haus im Süden“, zu deren Ausstrahlung harmonischer Ruhe erst das Motto aus der 56. Sure islamische Eschatologie und so existenzielle Tiefenschärfe beifügt.

Sexualität und Körperlichkeit bekommen bei Herbst aber auch eine poetologische Funktion zugeschrieben, greifbar etwa in den zu Recht auf einer Doppelseite vereinten Gedichtpaar „Der Übermensch geht“ und „Die Gegenstände der Gedichte“: Im ersten ist „Der da kommt“ nur noch von ‚cleanness‘ (Herbsts Chiffre für die ‚unheilige Allianz‘ aus körperfeindlicher Sauberkeit und political correctness) und Analphabetismus geprägt, eine blonde Bestialität, die sogar den Nietze’schen Übermenschen, wie ihn der Gedichttitel beruft, weit hinter sich lässt. Solch deutlichem Kulturpessimismus setzt das zweite ein poetologisches Gegengewicht, indem es gerade das Profane, das Kompatible, „Volkshochschulisch Verständnis für Sozialitäten // Demokratischer Handdruck / dass es nichts Großes mehr gebe“, kurzum: das Inventar des gerade beschriebenen ‚neuen Menschen‘ klanglos den Orkus hinab gehen lässt:

Das n i c h t hat Pyramiden erbaut
und spießt den Himmel drauf auf
drohend vor Drang und Musik.

Sicher, ‚mehrheitsfähig‘ und demokratisch ist ein solche Position nicht; doch dazu tritt der Dichter Herbst auch nicht an und macht daraus keinen Hehl, etwa in der abermals Religion und Sexualität aufs Eindeutigste kombinierenden Invektive „Gott kotzt in die Demokratie“. Wen solches stört, der mag das Buch aus der Hand legen – konsequenterweise dann aber auch den Großteil seine Bibliothek entsorgen.

Wer die Pose konzediert, kann sich in diesem fein und doch unaufdringlich kombinierten Sammlung seine eigenen Wege suchen, etwa den poeta doctus Herbst aufsuchen, dem Variationen auf Ungaretti oder Helmut Schulze gelingen, bei dem gleichzeitig aber auch Walter Scott und Karl May präsent sind und der einen unvermutet von Gottfried Wilhelm Leibniz über Dino Risi in ein mysteriöses Buch von Yesim führt. Hier findet sich auch der von Anfang an nahe gelegte Paragone mit Rilke, weniger gelungen vielleicht im Titelgedicht „Der Engel Ordnungen“, stärker in „Nachdem man in Rilkes Übersetzungen las“, das abermals verschiedene thematische Fäden dieser Lyrik zusammen nimmt: „Man hat es als Dichter mit Haltung zu tun“, so der programmatische Eingang, der gegen Demokraten eine dezidiert aristokratische Haltung einnimmt und gegen all jene, die Arno Schmidt die „Phantasielosn“ nannte, gerade die Pyramidenerbauer (und Rilke im Hintergrund) setzt:

Sie haben sich nicht dem realen gebeugt,
sondern den Irrtum gestaltet
und Schönheit gezeugt

Die den Irrtum gestaltet haben, wenden sich dem Möglichen zu, widersetzen sich dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten: Poetisch klingt hier an, was Herbst kürzlich in seinen Heidelberger Poetikvorlesungen theoretisch erörtert hat („Kybernetischer Realismus, Heidelberger Vorlesungen“. Heidelberg: Manutius 2008). Und diese Haltung einer dichterischen Gegenkraft, die „noch im Schmutz ganz rein“ zu denken sei, findet ihren formalen Ausdruck – im Reim, der in diesem Gedicht ganz regelmäßig kreuzt. Dass Herbst solches Programm gerade anhand von Rilkes „Übersetzungen“ entwickelt, gibt zu denken und suggeriert gerade die fortwährende kulturelle Übertragung – Tradition eben – als Aufgabe jenes dichterischen Widerstandes, den Herbst nicht nur beschwören, sondern in seiner Lyrik umsetzen will. In den besten Texten gelingt ihm dies, so zweifellos mit „Ezra Pound im Käfig“. Eine persönliche Auseinandersetzung mit dem unverkennbaren lyrischen Vorbild, das direkt, doch mit distanzierendem „Sie“ angesprochen wird, kombiniert Herbst mit Märchenmotiven, mit einem „Frühstück von Pisa“ (als makabre Replik auf die ‚Sizilianische Vesper‘), mit dem biblischen Paulus und gar mit dem Benito Mussolini Salòs, dabei stets formstreng bleibend und auch die Frechheit nicht scheuend, „Pound“ auf „Sound“ zu reimen. Ein Meisterstück zeitgenössischer Lyrik, das weder die schillernde Gestalt Pounds noch das skandalösen Vorgehen der alliierten ‚Sieger‘ verschweigt, zugleich aber beides poetisch aufhebt – über die Sphäre weltanschaulicher Dichtung weit hinaus.

Wer dieser lyrischen Einladung folgt, den drei Engeln über die Schulter und gleichsam Gott in die Karten zu schauen, der entdeckt einen anderen Herbst, macht hinter der Bête Noire vieler Feuilletons einen neuen Lyriker aus, der zweifellos – um abermals Schmidt zu zitieren – „mit dem König geht“. Es bleibt zu hoffen, dass er von diesen Gängen demnächst viele weitere Gedichte mitbringt.

Titelbild

Alban Nikolai Herbst: Der Engel Ordnungen. Gedichte.
Axel Dielmann Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
150 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783866380073

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