Die Kraft des Erzählens und die Faszination des Mythos

Über Nino Haratischwilis Debütroman „Juja“

Von Ulrike WeymannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrike Weymann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die 1983 in Tiflis geborene Nino Haratischwili hat sich bisher als Theaterautorin und -regisseurin einen Namen gemacht. Vor zwei Jahren erhielt sie den Rolf-Mares-Preis der Hamburger Theater sowie den Hauptpreis des Heidelberger Stückemarkts, Anfang dieses Jahres den Adelbert-von-Chamisso-Preis der Robert Bosch Stiftung. Nun legt sie ihren ersten Roman mit dem schlichten, auf einen Popsong rekurrierenden Titel „Juja“ vor.

Der Titel ist ebenso assoziationsoffen gehalten wie das einfache Cover, das ohne Titelbild in zartlila daherkommt und damit allenfalls Reminiszenzen an die Frauenbewegung der 1970er-Jahre weckt. Mit dieser Assoziation liegt der Leser allerdings nicht ganz falsch. Das Buch handelt von dem Nachlass einer Selbstmörderin, deren poetische Texte rund dreißig Jahre nach ihrem Freitod von 1949 in Paris aufgefunden und in feministischen Kreisen zu einem Klassiker wurden. Mit mythischen Bildern aufgeladen erzählen die beiden Prosabände der Autorin mit dem Namen Danielle Sarréra vom Geschlechterkampf und von weiblicher Sexualität sowie der Angst vor der Sinnlosigkeit und der Leere des Lebens.

Offensichtlich gelang es Sarréra, eine Sprache zu finden, die das Erleben vieler ihrer Leserinnen zu kommunizieren wusste. Die Erzählungen luden zur Identifikation ein. Als die Kurzprosa mit den Titeln „Oeuvre“ und „Journal“ in den siebziger Jahren erschien, lösten die beiden Bände eine regelrechte Flut von Selbstmorden aus. Außer den Texten konnten jedoch trotz akribischer Recherchen keine weiteren Lebensspuren der Autorin ausfindig gemacht werden. Mit siebzehn Jahren soll sich die in einem heruntergekommenen Mietshaus im Pariser Künstlerviertel Saint Germain hausende Querulantin am Gare de Lyon vor einen Zug geworfen haben. Allerdings verzeichnen die Polizeiakten keinen auf sie zutreffenden Selbstmord in diesem Zeitraum. Um die Identität der Autorin entstand ein bis heute nicht geklärtes Rätselraten. Sarréra verhandelte nicht nur in ihren Prosatexten mythologische Themen, sie wurde durch ihre ungeklärte Biografie selbst zu einem Mythos.

Haratischwili macht die fiktive Autorschaft nun zum Ausgangspunkt ihres Romans und verbindet den Mythos mit der Frage von Fiktion versus Realität und der Identitätsproblematik ihrer Figuren. Statt eines linearen Handlungsverlaufs springen die Kapitel auf der Raum- , Zeit- und der Figurenebene hin und her. Erst im Verlauf des Leseprozesses fügen sich die einzelnen Kapitel zu einem Gesamtbild. Zunächst entzieht sich der Text einer die verschiedenen Ereignisse koordinierenden und ordnenden Handlungsspur. Den roten Faden bildet der Prosatext der Selbstmörderin, der unter dem Titel „Eiszeit“ gleichrangig mit den Geschichten der einzelnen Figuren in den Roman eingewoben ist. „Eiszeit“ infiziert und infiltriert das Erleben und die Wahrnehmung der Figuren, die der Leser aufgrund der fragmentarischen Erzählweise nur bruchstückweise kennenlernt.

Was alle Romanfiguren verbindet, ist ihre Einsamkeit und Fremdheit in der Welt. Aufgrund ihres introvertierten Charakters, traumatischer Erlebnisse und Lebenskrisen kapseln sich die Protagonisten von ihrer Umwelt ab. Der Text der Selbstmörderin, die in Haratischwilis Roman Jeanne Saré heißt, wird ihnen zum identifikatorischen Lebenssurrogat, das zunehmend das eigene Leben ersetzt: „Es war gut in fremden Leben rumzuwühlen, wenn einem das eigene abhanden gekommen war. Das fremde Leben wäre vielleicht eines Tages imstande, einem das eigene zurückzugeben“, heißt es im Text. Eiszeit“ wird den Romanfiguren zur Droge, die einigen von ihnen das Leben kostet.

Die zu Beginn noch weitgehend isoliert nebeneinander stehenden Lebensgeschichten werden im Verlauf des Romans über die Lektüre und die Faszination des Textes „Eiszeit“ immer enger zusammengeführt. Die in Amsterdam lebende Kunsthistorikerin Laura Van Den Ende, eine vielfach ausgezeichnete Wissenschaftlerin, lässt sich durch den Studenten Jan, von ihr immer nur „der Freak“ genannt, zu einer Forschungsarbeit über die mysteriöse Verfasserin Saré überreden. Gemeinsam reisen sie nach Paris und machen sich auf die Suche nach biografischen Hinweisen, reden mit Familienangehörigen und Freunden der Selbstmordopfer. Während ihres Pariser Forschungsaufenthaltes kommen sie der Identität Sarés allerdings kaum näher. Plötzlich steht deren Existenz sogar vollends in Frage. Ist vielleicht der Herausgeber der Prosabände, mit dem Laura eine leidenschaftliche, aber zerstörerische Affäre eingeht, die beinahe in einem Mord endet, der eigentliche Verfasser? Oder hat auch er nur ‚abgekupfert‘? Immer wieder versuchen die beiden Figuren, zu denen sich im Verlauf des Romans noch eine Frau aus Sidney gesellt, dem verstörenden Text über die Biografie der mysteriösen Verfasserin näher zu kommen. Und wie Germanistikstudenten im ersten Semester müssen sie lernen, dass der Zugriff aufs Autobiografische nicht wirklich einen Schlüssel zum Textverständnis bietet, ja in diesem Roman gar nicht erst gelingen will.

Nino Haratischwili fragt in ihrem Roman „Juja“ nach der Faszination von Geschichten und deren Bedeutung für das eigene Leben. Und zumindest zwei Figuren finden eine Antwort darauf: „Es geht immer um einen selbst. Ich nehme fremde Geschichten, um meine zu finden, das ist alles, was ich sagen kann. Ich glaube, dass Geschichten wie Kleider sind, die wir an- und ausziehen können“. Damit führt Haratischwili die Prosatexte der unbekannten Autorin in eine neue Potentialität über, aus der zwar keine Eindeutigkeiten resultieren, es jedoch eine Hoffnung auf Veränderung gibt. Einige der Romanfiguren gewinnen in ihrer existentiellen Auseinandersetzung mit der fremden Lebensgeschichte eigene Inhalte und neue Lebensziele. Diesen Erfahrungsprozess muss aber wohl jeder für sich machen. Der Roman endet mit dem Gespräch der Erzählerin mit einer Backpackerin am Flughafen. Diese ist auf dem Weg nach Paris, um dort der Spur einer mysteriösen Selbstmörderin zu folgen. Ihre Großmutter erzählte ihr einst von einem rätselhaften und faszinierenden Text…

Titelbild

Nino Haratischwili: Juja. Roman.
Verbrecher Verlag, Berlin 2010.
299 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783940426482

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