Lazarillo und seine Nachfolger

Hans Gerd Rötzer analysiert die Anfänge des europäischen Schelmenromans

Von Anke PfeiferRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anke Pfeifer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Titel „Der europäische Schelmenroman“ generiert ein Missverständnis, wenn man als Leser einen genregeschichtlichen und nationalliterarisch übergreifenden Abriss von den Anfängen im 16. Jahrhundert bis in die heutige Zeit hinein erwartet. Solch einem möglichen Fehlschluss liegt ein Definitionsproblem zugrunde: zum einen wird unter Schelmenroman oder pikareskem beziehungsweise pikarischem Roman die novela picaresca des spanischen Siglo de Oro und ihre Nachfolger im 17. Jahrhundert verstanden, zum anderen eine bis zum modernen Roman der Gegenwart reichende Traditionslinie, die bestimmte narrative Strukturen aufnimmt und weiterentwickelt.

Rötzer als Anhänger der ersten Auffassung konzentriert sich hier auf die Werke der spanischen novela picaresca und deren unmittelbare Nachahmer in Frankreich, England und Deutschland. Der Verfasser macht es sich mit dieser Sammlung von Werkanalysen zur Aufgabe, „den Facettenreichtum der europäischen Pikareske an Einzelfällen aufzuzeigen und den Weg zur sogenannten ‚Verbürgerlichung’ des erzählenden Ich als eine mögliche Vorstufe des modernen Romans seit der Aufklärung zumindest zur Diskussion zu stellen.“ Dabei gibt er dem „Versuch einer europäischen Perspektivenvielfalt den Vorrang vor einer rezeptionsgeschichtlichen Systematik.“ Teilweise griff er dafür auf seine früheren Arbeiten aus den 1970er- und 1980er-Jahren zurück, andere Kapitel sind jüngeren Datums oder Erstveröffentlichungen.

Zunächst erörtert er anhand des Titelkupfers zur Erstausgabe der „Picara Justina“ die Archetypen der Pikareske, also jene Werke, die genrekonstituierend waren. Am „Lazarillo de Tormes“ und seinen Fortsetzungen beziehungsweise Bearbeitungen zeigt er „Stufen einer ‚literarischen’ Interpretation“ und deren Einfluss auf die jeweilige Erzählintention. Rötzers Analysen belegen, wie die Spezifik dieser zeitkritischen Werke vor allem durch deren Reaktion auf die Gesellschaft begründet war. Dabei wird deutlich, dass schon die unmittelbaren Nachahmungen und Fortschreibungen strukturell Metamorphosen durchliefen, da sie verstärkter Zensur unterworfen waren oder örtlich – in Antwerpen und Paris – und zum Teil zeitlich in einem anderen Kontext entstanden.

Eine ganz neue Fortsetzung des „Lazarillo de Tormes“, verfasst im Jahre 2003 von dem spanischen Literaturwissenschaftler Juan Luis Fuentes Labrador, entwickelt dessen Geschichte ebenfalls weiter. Sie macht dem Leser Lazarillos Geheimpapiere zugänglich, deckt dessen persönliche Pläne in der Abrechnung mit Widersachern auf und reicht nun eine direkte Kritik an zeitgenössischen Zuständen im früheren Spanien nach.

Im Kapitel „Subversive Affirmation – Das Los der jüdischen Konvertiten (conversos) als zentrales Thema der novela picaresca“ legt der Autor sehr überzeugend dar, wie konkret jeweils die vier Hauptwerke auf die staatliche und religiöse Neuordnung der spanischen Gesellschaft im 16. und 17. Jahrhundert reagierten. Rötzer beweist etwa in Auseinandersetzung mit anderen Interpretationsansätzen, dass der „Guzmán“ vordergründig die Geschichte eines Büßers ist, hinter der sich eine „sarkastische Gesellschaftssatire“ verbirgt.

Im Kapitel zum „Don Quijote“ von Cervantes untersucht er dessen Kritik an den pikaresken Vorgängern und verweist auf die Öffnung der Erzählstruktur einerseits sowie andererseits auf den veränderten Auslöser pikaresken Handelns: nicht mehr Not, sondern zeitweiliger „potentieller Freiraum“.

Schließlich widmet sich der Verfasser in Einzelanalysen vier deutschen Romanen, einem französischen und einem englischen Werk aus der das spanische Modell adaptierenden pikaresken Literaturtradition. Kenntnisreich und detailliert interpretiert er die Werke in ihrem historischen Kontext von Gegenreformation, Dreißigjährigem Krieg, Ständegesellschaft und führt vor, wie jeweils die „Entlarvung des gesellschaftlichen Scheins“ vonstatten geht und welche Auswirkungen eine veränderte Autorintention auf die Werkstruktur hatte.

Im Schlusskapitel unternimmt Rötzer den „Versuch einer Eingrenzung“ der Pikareske und verweist zunächst auf die Verwendung die Bezeichnung pícaro samt Ableitungen in den Werken selbst. Dabei sollte allerdings unterschieden werden zwischen dem Selbstverständnis der Autoren, wenn sie selbst in ihren Werken auf das Pikareske Bezug nehmen, und der literaturwissenschaftlichen Zuordnung von Werken. Als Kriterien der Zugehörigkeit zur pikarischen Tradition nennt Rötzer den sozialen Hintergrund und die Erzählstruktur und möchte die Tradition auf das 16. und 17. Jahrhundert begrenzt sehen. Die von ihm analysierten Beispiele weisen jedoch bereits eine ziemliche Bandbreite in Bezug auf Formenvielfalt auf und die Autoren reagieren auf jeweils unterschiedliche soziale Verhältnisse. Es ist daher nicht nachzuvollziehen, warum sich Rötzer gegenüber einer weiterreichenden pikaresken Tradition so zurückhaltend zeigt.

Zweifellos ist der Vergleich allein mit der „narrativen Rahmenkonstruktion“ wenig gewinnbringend, aber in der Forschungsliteratur finden sich neben typologieorientierten Untersuchungen ganz verschiedene Ansätze, unter anderem jene, die eben – wie Rötzer es selbst tut – nach der Funktionalität dieses literarischen Modells fragen, auf das Schriftsteller recht auffällig gerade in Zeiten gesellschaftlichen Umbruchs häufig zurückgreifen. Krisenzeiten im Allgemeinen und der Widerspruch zwischen Sein und Schein einer Gesellschaft rufen den Schelm immer wieder auf den Plan. Vor allem im 20. Jahrhundert erscheint der Pikaro wieder ganz massiv. Verwiesen seien hier auf verschiedene Untersuchungen zu nationalliterarischen Erscheinungen, z. B. in Deutschland – auch in der DDR – , in Russland, Frankreich, Großbritannien, Rumänien, Finnland, aber auch in der amerikanischen Literatur. Gerade in jüngerer Zeit scheint das Thema in der Wissenschaft erneut an Aktualität zu gewinnen, wobei nun auch mediale Transformationen diskutiert werden. Nicht zuletzt deshalb ist es sehr zu begrüßen, dass eine aktuelle Interpretation der Ursprünge der Pikareske in diesem kleinen Bändchen zur Verfügung steht.

Zum Schluss sei eine kritische Anmerkung hinsichtlich der Inkongruenz in der Begrifflichkeit gestattet: während im Buchtitel vom Schelm beziehungsweise Schelmenroman die Rede ist, benutzt Rötzer in seinen Ausführungen durchgängig die Begriffe Pikaro beziehungsweise pikareske Literatur. Hier wäre zumindest eine Anmerkung wünschenswert gewesen, dass beide Begriffe oft synonym verwendet werden. Eigentlich ist der Schelm, wie etwa Till Eulenspiegel, ein Vorfahre des Pikaro und findet sich schon in der Volksliteratur.



Titelbild

Florian Rötzer: Der europäische Schelmenroman.
Reclam Verlag, Stuttgart 2009.
126 Seiten, 4,60 EUR.
ISBN-13: 9783150176757

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