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Olga Martynova vagabundiert in ihrem eindrucksvollen Debütroman „Sogar Papageien überleben uns“ durch Raum und Zeit

Von Monika StranakovaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Stranakova

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwanzig Jahre ist es her, dass sie sich in Leningrad kennen und lieben gelernt haben: der deutsche Austauschstudent Andreas und die zehn Jahre jüngere Marina, die in ihrer Heimatstadt als Sprachpraktikantin westdeutsche Touristen herumführte. Zwar galt es noch als gefährlich, ausländische Freunde („Personen aus dem anderen Leben“) zu haben, aber die Staatssicherheit schien kein Interesse mehr zu zeigen, war doch die Perestroika längst im Gange und man mit anderem beschäftigt. „Was weiß ich noch von diesem Winter? Es war nicht mehr viel übrig von der Substanz der uns vertrauten Zeit. Sie wurde flüssig. Sie wurde spärlich. Man konnte sehen, dass sie fast alle war. Die runde abgeschlossene Welt, in die ich geboren war, flog wie ein Luftballon fort.“

Als Andreas ging, blieben Marina nur die Erinnerungen – an Spaziergänge in einer Stadt, die trotz spärlicher Beleuchtung wie von Innen zu leuchten schien, an lange Gespräche mit ihren Künstler-Freunden, junge Maler und Underground-Poeten, an Abenteuerfahrten in entlegene Gegenden ferner Russlandrepubliken mit Andreas und dem Amerikaner John – und ihr Briefwechsel. Aus einem Brief erfuhr sie auch, dass er geheiratet hat. Einfach so. Als hätte es sie beide nie gegeben. Der Kontakt bricht wider Erwarten nicht ab, sie pflegen jahrelang eine russisch-deutsche Intellektuellen-Freundschaft.

In der Jetztzeit ist Marina Doktor der Philologie und auf Vortragsreise in Deutschland. Die Petersburger Oberiuten, die Dichter Daniil Charms, Alexander Wwedenskij und deren Freundeskreis, sind ihr Fachgebiet. Ihre Wahrnehmung der Wirklichkeit, „die verkehrte Welt, die den anderen normal vorkommt, verkehrt zu sehen“, ihre Bemühungen, in jeder Situation das Absurde, das Unsinnige kenntlich zu machen, haben für sie im Chaos des 20. Jahrhunderts durchaus ihre Berechtigung. Dass sie Andreas’ verspätetem Heiratsantrag nichts mehr abgewinnen kann, hat auch mit ihrem Einfluss zu tun. Denn unser Unbewusstes nährt sich, so die Botschaft der Autorin, aus der Gegenwart von Vergangenem mehrerer Generationen.

Olga Martynova, geboren 1962 bei Krasnojarsk und aufgewachsen in Leningrad, erzählt in ihrem ersten, auf Deutsch geschriebenen Roman „Sogar Papageien überleben uns“ vor dem Hintergrund einer interkulturellen Liebesgeschichte über größere Zusammenhänge, die ein Menschenleben übersteigen, aber doch prägen. Indem sie aus dem Zeitfluss (scheinbar) beliebige Ereignisse hervorholt, macht sie die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zum Gestaltungsprinzip ihres Romans. Was zunächst als Selbstzweck anmutet, wird bei der Fülle von Episoden wichtige Orientierungshilfe: Vor jedem Kapitel stehen drei Zeilen Jahreszahlen (vom 5. Jahrhundert vor Christus bis 2006), die aktuelle Zeitangabe jeweils fett gedruckt.

Anekdoten über Vladimir Nabokov, Zitate von Witold Gombrowitz oder Leo Tolstoj, der Petersburger Elefant, den der Schah von Persien 1714 Peter dem Großen geschenkt hat, Baumwollfelder in Usbekistan, der mumifizierte Lenin, Künstler in einer Hippiekolchose in Asien, der „unverwesliche“ Lama und gegerbte Katzenfelle aus der Zeit der Belagerung von Leningrad, sind nicht nur „Dinge aus einem früheren Leben“, die die Protagonistin direkt oder indirekt zu dem Menschen werden ließen, der sie heute ist, sondern für den deutschen Leser auch Bilder aus einem weitestgehend unbekannten Sowjetrussland.

Man findet durchaus Gefallen an Olga Martynovas gewagtem Spiel mit Sprengseln und Splittern. Sie reiht sie raffiniert und klug aneinander, sodass man dem Roman die Anstrengung seiner Entstehung – ein Gütesiegel hoher Kunst – nicht ansieht. Man „badet“ in der Zeit. Und die Welt flimmert, wie die Wüste um den Aralsee.

Titelbild

Olga Martynova: Sogar Papageien überleben uns. Roman.
Literaturverlag Droschl, Graz 2010.
208 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783854207658

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