Es war einmal ein Edelweis

Ein lesenswertes „Oral History“-Projekt, dem aber die wissenschaftliche Einordnung fehlt. Christoph U. Schminck-Gustavus schreibt über „Winter in Griechenland. Krieg – Besatzung – Shoah 1940-1944“

Von Klaus-Jürgen BremmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Jürgen Bremm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was den inzwischen emeritierten Bremer Professor für Rechts- und Sozialgeschichte, Christoph U. Schminck-Gustavus, dazu bewogen hat, von 1989 bis 1991 im nordwestlichen Zipfel von Griechenland ein Oral-History Projekt zu beginnen, bleibt dem Leser zunächst unklar. Später ist immerhin zu erfahren, dass es sich um den zweiten Teil einer in Griechenland publizierten Trilogie handelt. Der Autor steigt nach einer recht eindrucksvollen Beschreibung der epireischen Gebirgslandschaft gleich in sein Thema ein. Im ersten Interview befragt er einen ihm offenbar schon aus Bremen bekannten Einheimischen und dessen Mutter über deren Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg. Dabei geht es – wie in allen folgenden Befragungen auch – vor allem um die Zeit der deutschen Okkupation einschließlich der Deportation der Ioánniner Juden im Frühjahr 1944.

Ihn interessiere der Alltag des Krieges und wie ihn die kleinen Leute erlebt haben, versichert Schminck-Gustavus einem der Befragten, nicht die großen Linien der Politik. Der griechische Bürgerkrieg, der bereits im Herbst 1944 nach dem Abzug der Deutschen ausbrach und der Bevölkerung des kargen Nordwestgriechenlands weitere Not und Opfer auferlegte, wird zwar gleichfalls von einigen der Befragten thematisiert, gehört jedoch ganz offenbar nicht zu den Prioritäten des Verfassers.

Zwar scheinen die Schilderungen des zum Zeitpunkt der Befragung (1989) 55-jährigen Phokíon Kapsalís aus dem von den Deutschen im Krieg gesprengten Asprangeli eine Fülle bedrückender Details zu Tage zu bringen: Von den Deutschen – als Repressalie – zerstörte Dörfer und vertriebene Einwohner, Frauen, Kinder, alte Männer, die in den winterlichen Bergen unter unsäglichen Bedingungen zu überleben versuchten.

Doch der Forschungskontext des Verfassers bleibt völlig im Unklaren. In erster Linie scheint es ihm bei seinen eher zufällig zustande gekommen Befragungen von Zeitzeugen um eine unsystematische Befundsicherstellung im Wettlauf mit Alter und Tod zu handeln. Dabei bemüht sich der Verfasser, die nach fast einem halben Jahrhundert erstaunlich präzisen Angaben seiner Gewährsleute mit den bisher in der Forschung gesicherten Fakten zu vergleichen. In Fußnoten erscheinen daher wichtige Standardwerke wie das von Hermann Frank Meyer über die mittlerweile berüchtigte 1. Gebirgsdivision (Blutiges Edelweiß) des exzentrischen Generals und Kriegsverbrechers Walter von Stettner, zu dessen harmloseren Marotten es noch gehörte, sich das okkupierte Wohnzimmer eines wohlhabenden Joánniner Händlers innerhalb von nur drei Tagen in ein Tiroler Zimmer mit Wandtäfelung umbauen zu lassen. Ansonsten aber zeichnete sich der als unangenehmer Typ geschilderte Kommandeur – er sei hektisch und nervös gewesen – durch seine drakonischen Befehle aus, einheimische Geiseln für Überfälle griechischer Partisanen zu erschießen, wobei sich Schminck-Gustavus darüber empört, dass später deutsche Gerichte das mörderische Verhältnis von zehn Geiseln auf einen getöteten deutschen Soldaten als mit dem damals gültigen Kriegsvölkerrecht vereinbar ansahen.

Vieles aus den Berichten wirkt wiederum skurril, wie etwa die treuherzige, aber ernst gemeinte Absicht eines Offiziers aus dem bayerischen Prien, einen zwölfjährigen Griechen zu adoptieren. Dessen Versuch, dem jungen Achiléas Kolgerídis (Jahrgang 1932) zum Abschied wenigstens ein erbeutetes Fahrrad – damals eine Kostbarkeit – zu schenken, misslingt vollkommen, da sich der gar nicht so harmlose Knabe mehr für die im Schreibtisch des Offiziers aufbewahrte italienische Pistole interessierte. Auch die Geschichte von General Hubert Lanz, der beim Abzug der Deutschen aus Joánnina noch mehrmals seine Arado-Maschine über der Stadt kreisen ließ, um Bonbons und Süßigkeiten abzuwerfen, hat sich zum Verdruss des Autors hartnäckig unter den Einheimischen gehalten. Von vielen Zeitzeugen wurde in den Gesprächen auch das Bild des „guten Österreichers“ entworfen, der anders als die Reichsdeutschen auch schon einmal wegschaute. Einer echten Überprüfung hielt es jedoch kaum stand, zumal einige der so genannten Österreicher sich doch im Nachhinein als Bayern oder sogar Norddeutsche erwiesen.

Mit mehr oder weniger Geschick und Beharrungsvermögen gelingt es Schminck-Gustavus, sich seinem tatsächlichen Hauptthema, der Deportation von rund 1.800 Juden aus Joánnina am 25. März 1944 zu nähern. Wie so oft in vergleichbaren Fällen ist die Mauer des Schweigens jedoch nur teilweise zu durchbrechen. Zu viele ortsansässige Griechen hatten von der Verschleppung und dem anschließenden Massenmord profitiert, der zwar von der SS eingeleitet wurde, aber von Angehörigen des Heeres (!) in Joánnia umgesetzt wurden. Rund 80 Lastwagen der Wehrmacht transportierten die zusammengetriebenen Opfer bei eisiger Kälte über kaum passierbare Gebirgspässe zur nächsten Eisenbahnstation, von wo es dann weiter in das Vernichtungslager von Auschwitz ging. Das Interview mit einem der wenigen überlebenden und nach Joánnia zurückgekehrten Opfer, einem alten Tuchhändler in einem mit Stoffen bis an die Decke gefüllten dunklen Geschäft, misslingt jedoch vollkommen und endet mit einem verschreckten Hinauswurf für den „Historiker aus Deutschland“. Schmidt-Gustavus scheint diese Szene indes so beschäftigt zu haben, dass er den Alten später noch einmal in seinem fiktiven Epilog, der eigenartigen Traumszene eines fiktiven Prozesses, wieder auftreten lässt.

Im letzten und größten Abschnitt seines Buches widmete sich der Verfasser schließlich dem Versuch bundesdeutscher Behörden, in den 1960-iger Jahren einige der Hauptverantwortlichen für die Verschleppung der Joánniner Juden anzuklagen. Doch wie so viele Verfahren liefen sich auch die jahrlangen Ermittlungen eines durchaus engagierten Bremer Staatsanwaltes in dem Gewirr aus Lügen, Schutzbehauptungen und selbstgerechten Umdeutungen der Beschuldigten fest. Die Frustration und der Zorn des Verfassers angesichts der mühevollen behördlichen Recherchen – die immerhin 15 Aktenbände ausfüllten – und des unglaublichen Versäumnisses der Ermittlungsorgane, damals noch lebende griechische Zeugen zu befragen, sind deutlich zu greifen.

Sein starkes persönliches Engagement führte allerdings auch schon während der Interviews zu einigen verzerrten Darstellungen. Regelmäßig versuchte Schminck-Gustavus durch gezieltes Nachfragen, sein eigenes, offenbar negatives Bild der Deutschen in die Schilderungen der Zeitzeugen einfließen zu lassen. So war es für den Bremer Historiker kaum fassbar, dass das schlimmste Erlebnis eines Griechen während der deutschen Besatzungszeit die schallende Ohrfeige eines Offiziers gewesen sein sollte, der sich über das Verschwinden einiger Papiere von seinem Schreibtisch aufgeregt hatte. Der Versuch eines der Befragten, ihm das Lied der Gebirgsjäger „Es war einmal ein Edelweis“ vorzusingen, löst bei dem Bremer Professor verwirrte Beklemmung aus. Nein, den Text kenne er natürlich nicht, antwortet der pikiert und mag auch nicht das wiederholte Lob der deutschen Disziplin aus griechischem Munde kommentieren. So recht scheint manches nicht in das Weltbild eines westdeutschen Professors aus Bremen zu passen, doch mehr noch als die fühlbare ideologische Prägung des Verfassers stört der Umstand, dass dessen Band weder eine Einführung in den Stand der wissenschaftlichen Forschung über diesen Abschnitt der deutschen Okkupationsgeschichte enthält noch eine resümierende und methodologisch kritische Bestandsaufnahme aller gesammelten Befunde. So entsteht zwar durchaus ein plastisches Bild der fraglichen Zeit, doch für den Leser bleibt unklar, welcher wissenschaftliche Wert diesem durch zahllose situative Schilderungen aufgelockerten Bericht eigentlich zuzuordnen ist. So fehlen der Publikation, die sich ganz offenbar mit dem Abdruck zahlreicher Archivdokumente und zeitgenössischen Fotoaufnahmen einen seriösen Anstrich zu geben versucht, auch ein Literaturverzeichnis oder wenigstens ein Register. Beides ist schlicht nicht vorhanden. Auch eine übersichtliche Karte des Gebietes wäre hilfreich gewesen.

Titelbild

Christoph U. Schminck-Gustavus: Winter in Griechenland. Krieg - Besatzung - Shoah 1940-1944.
Wallstein Verlag, Göttingen 2010.
344 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783835305915

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