Das Urübel aller Übel

Über Ingeborg Bachmanns „Kriegstagebuch“

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Aus dem von den Geschwistern Ingeborg Bachmanns an sich bis in die 2020er-Jahre hinein gesperrten Nachlass der 1973 verstorbenen österreichischen Schriftstellerin erblickt seit längerem doch immer mal wieder das eine oder andere Manuskript das Licht der Öffentlichkeit und findet seinen Weg zwischen zwei Buchdeckel. So im Jahre 2005 etwa ihre „Kritischen Schriften“.

Nun wurde ein weiterer Nachlasstext veröffentlicht. Bachmanns „Kriegstagebuch“ erschien als schmales Bändchen von kaum mehr als 100 Seiten. Dabei umfassen die Aufzeichnungen des damals 18-jährigen Mädchens selbst sogar gerade mal 16 Druckseiten. Das heißt, es sind genau genommen gar nicht ihre Aufzeichnungen, denn der Text ist nur als Typoskript von vermutlich fremder Hand überliefert. Der Herausgeber Hans Höller nimmt gar an, dass es sich nur um einen Auszug des handschriftlichen Originals handelt, der zudem überarbeitet worden sein könnte. Für diese wenig erfreuliche Vermutung führt er einige Gründe ins Feld, von deren Plausibilität man sich anhand des Druckes leicht überzeugen kann. Der „große zeitliche Abstand zwischen einzelnen Eintragungen“ spricht für Kürzungen und die „überlegte Gliederung“ des Gesamttextes dafür, dass er nachträglich redigiert wurde. Was aber heißt das für seine Authentizität? Eine Frage, die Höller bedauerlicherweise nicht erörtert.

Angehängt sind dem Tagebuch die Briefe, die Jack Hamesh an Ingeborg Bachmann schrieb. Der Wiener Jude hatte 1938 als 18-jähriger mit einem Kindertransport nach London fliehen können. 1945 war er mit der englischen Armee in seine Geburtsland zurückgekommen, wo der nunmehrige Besatzungssoldat Ingeborg Bachmann kennen lernte und sich in sie verliebte. Doch schon im Frühling 1946 wanderte er ins damalige Palästina aus. Aus dieser Zeit stammen seine Briefe. Auch wenn Bachmann in ihrem Tagebuch davon schreibt, dass sie mit ihm den „schönsten Sommer“ ihres Lebens verbracht habe, zeigen sie, dass das Erlebnis der Begegnung für ihn noch weit gravierender war. Die Zeit mit ihr sei „nicht nur von große Bedeutung sondern eine Wendung in meinem Leben“, bekennt er einmal und bekräftigt vor allem in den frühen Briefen mehrmals, „wie sehr ich Dich liebe und brauche“. Wie immer in solchen Fällen berührt es ein wenig unangenehm, derart intime Briefe gedruckt in Händen zu halten und zu lesen.

Ob Bachmann mit ähnliche Liebesschwüren antwortete, wird wohl nicht letztgültig zu klären sein. Denn ihre Zuschriften müssen als verloren gelten. Hameshs Briefe lassen allerdings nicht vermuten, dass er glühende Liebesbriefe von ihr erhielt. Diese Annahme wird auch durch eine Zeile Hameshs über ihren Abschied gestützt. „Du“, schreibt er Bachmann, „[warst] gefasster und schienst die stärkere zu sein.“ Gemeinhin trifft das in solchen Situationen auf diejenigen zu, die weniger verliebt sind; was wiederum nicht heißen muss, dass sie auch diejenigen sind, die weniger lieben.

In spätere Briefen flocht Hamesh wiederholt allgemeine Reflexionen ein, die sich gelegentlich recht banal ausnehmen: „Der Mensch aber muss leben. Jede andere Ansicht ist falsch und treibt zu den widersinnigsten Dingen“, meint er etwa nicht eben tiefsinnig; oder er fragt rhetorisch: „Wer kann seine Eltern vergessen? Wer seine Geschwister und Freunde? Wer vergisst seine Heimat?“

Ist der Abschied der beiden nur von Hamesh überliefert, so die erste Begegnung nur von Bachmann. Zwar scheint der englische Soldat sie zunächst nicht gerade beeindruckt zu haben, denn sie vermerkte, dass er „klein und eher hässlich“ sei, doch immerhin war ihr die Begegnung wichtig genug, sie überhaupt festzuhalten. Und ihr Eintrag über das nächste Zusammentreffen klingt schon ganz anders.

Dass der Antisemitismus im Kärntner Land auch nach der nationalsozialistischen Niederlage noch immer virulent war, ist zwar schrecklich, kann aber nicht verwundern. Verwunderung und auch ein wenig Bewunderung rufen allerdings die Stärke und das Selbstbewusstsein hervor, mit denen Bachmann auf ihn und die tuschelnden Nachbarn und Verwandten reagierte. „Alle reden über mich“, notierte sie, „und natürlich auch die ganze Verwandtschaft. ‚Sie geht mit dem Juden‘“. Es sind solche Sätze, in denen er sich manifestiert, der „ewige Antisemitismus“, „dieses Urübel aller Übel“, das Hamesh später in einem der Briefe für „die Unmöglichkeit der Assimilierung“ verantwortlich machen sollte. Bachmann aber hatte das judenfeindliche Geschwätz von Nachbarn und Verwandten nicht angefochten. Im Gegenteil: „Ich werde mit ihm zehnmal auf und ab durch Villach und durch Hermagor gehen, und wenn alles Kopf steht, jetzt erst recht.“ Wie auch schon die ersten Zeilen des Tagebuchs deutlich machen, dass die 18-jährige alles andere als eine kriegsbegeistert oder von nationalsozialistischer Gesinnung ist. „Jetzt bin ich gerettet“, lauten die ersten Worte, „ich muss nicht nach Polen und nicht zur Panzerfaustausbildung.“

Beschlossen wird das Büchlein von einem Nachwort des Herausgebers, das so kenntnisreich und informativ ist, wie man es von dem Bachmann-Experten erwarten darf. So weist er etwa auf die Bedeutung der Briefe Hameshs für wissenschaftliche Lektüren des Galizien-Kapitels in Bachmanns Nachlass-Fragment „Das Buch Franza“ hin, das man fortan anders lesen werde. Nicht etwa, weil es nun nach autobiografistischer Lesart „entschlüsselt“ werden könnte oder gar sollte. Allerdings setze man weder die literarische Fiktion „außer Kraft“, noch verpflichte man die Literatur auf die Wirklichkeit, „wenn man nach den Formen der Auswahl und Kombinationen der Zeichen der literarischen Figurenentwürfe fragt und die fiktionale Konstruktion als eine Möglichkeit unter denkbaren anderen Möglichkeiten sieht.“ Und dies ist es, was Höller einfordert.

So erhellend sein Nachwort auch ist, gelegentlich neigt Höller zu kleineren Übertreibungen. Ob später wirklich niemand eine „größere Veränderung“ von Bachmanns Denken und „ihrer ganzen Existenz“ bewirkte als Hamesh, lässt sich bezweifeln. Für letzteres käme beispielsweise Max Frisch in Betracht, der Bachmann immerhin in die Tablettensucht und in psychiatrische Klinken trieb. Auch lässt sich mit dem Hinweis auf die Tagebuchstelle „Das ist der schönste Sommer meines Lebens, und wenn ich hundert Jahre alt werde – das wird der schönste Frühling und Sommer bleiben“ schwerlich plausibilisieren, dass die Begegnung mit Hamesh tatsächlich „eine nicht vergehende Bedeutung“ für Bachmanns „ganzes Leben“ hatte. Denn sie schrieb diese enthusiastischen Zeilen ja schließlich nicht im Jahre 1971, also am Ende ihres Lebens, sondern 1945 als Heranwachsende. Doch immerhin kann Höller seine Behauptung ein wenig mit dem Hinweis stützen, dass die Wendung „der schönste Frühling“ in „Das Buch Franza“ noch zwei Jahrzehnte später an „die Zeit der Befreiung vom Krieg“ erinnert.

Titelbild

Ingeborg Bachmann: Kriegstagebuch. Mit Briefen von Jack Hamesh an Ingeborg Bachmann.
Herausgegeben von Hans Höller.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2010.
107 Seiten, 15,80 EUR.
ISBN-13: 9783518421451

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