Produktive Nachbarschaft

Rainer Wieczorek bringt in seiner Novelle einem Beckettforscher Tuba-Töne bei

Von Willi HuntemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Willi Huntemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man glaubt das Sujet hinreichend zu kennen: Ein Schriftsteller hat sich zurückgezogen, um in aller Ruhe ein geplantes Werk zu schreiben, doch wegen einer Schreibblockade oder äußerer Störquellen kommt es nicht zustande – und wir haben dafür ein Stück poetologischer Literatur über den Schreibprozess. Den komischen Archetyp dazu liefert etwa die späte Bildergeschichte von Wilhelm Busch „Balduin Bählamm, der verhinderte Dichter“ oder auch schon „Die feindlichen Nachbarn oder Die Folgen der Musik“, wo sich ein Maler und ein Musiker bekriegen. Die tragische Variante findet sich aber auch in der jüngeren deutschen Literatur als ein durchgehender Topos im Prosawerk von Thomas Bernhard, das von menschenfeindlichen Sonderlingen bevölkert ist, die mit ihren „Studien“ an ihren hohen Ansprüchen und ihrer Umgebung scheitern („Das Kalkwerk“, „Korrektur“, „Beton“). In der „Tuba-Novelle“ von Rainer Wieczorek findet dieses Sujet nun eine erfrischend neue Ausgestaltung.

Der namenlose Protagonist hat sich in ein Haus zurückgezogen, um im Rahmen eines neunmonatigen Stipendiums einen Essay über „Beckett in Ussy“ zu verfassen, einem kleinen Ort an der Marne, wo sich der Schriftsteller in den 1950er-Jahren ein Haus bauen ließ, um ungestört schreiben zu können. Trotz gründlicher Einarbeitung in die Forschungsliteratur findet der Essayist keinen Einstieg, da ein übender Tubaspieler im Haus gegenüber die Konzentration stört. Die Schreibsituation spiegelt sich in der von Beckett, der seinerseits auch mit Störquellen zu kämpfen hatte, doch allmählich gewinnt der Essayschreiber Interesse am Tubaspiel und entdeckt, dass die ungebetene Störung produktiv wird: „Die Störung war das Gefürchtete und Gesuchte zu gleichen Teilen“. Die Musik, vom kenntnisreichen Schriftsteller intensiv wahrgenommen, weckt Kindheitserinnerungen an seinen Vater, einen Cellisten und Kirchenglockenspieler, der ebenfalls nie gestört werden wollte, als der Tubist nach Einspielübungen eine Marcello-Sonate übt, die der Vater seinerzeit auf dem Cello spielte und die der Beckettforscher nun neu für sich entdeckt.

Es kommt zu biografischen Assoziationen zwischen dem Vater und Beckett sowie zwischen Beckett und dem kanadischen Pianisten Glenn Gould, einem anderen künstlerischen Solitär. Die Tuba rückt zusehends ins Zentrum der Aufmerksamkeit und es entwickelt sich ein imaginärer Dialog mit dem Musiker gegenüber. Schließlich kauft sich der Schreiber sogar ein Tuba-Mundstück und die Partitur der gehörten Hindemith-Sonate, um sie eingehender zu studieren. Er imaginiert eigene Werke wie „Utopien für Bass-Tuba“, „Ein Tacet für Samuel Beckett“, ja zuletzt ein „Trio für Tuba, Cello und Essayisten“.

Die fehlende Stimme in einem geübten Tuba-Duo macht dem verhinderten Musiker seine eigene Stimme bewusst, „eine unvernommene Stimme, die […] vielleicht schon ein ganzes Leben darauf wartete, vernommen zu werden, um neue Räume eröffnen zu können“. Er überwindet seine Schreibhemmung – das Stipendium läuft mittlerweile ab – und damit ist der entscheidende Wendepunkt erreicht: „eine rezipierende, aufbereitende, aber in ihrem Grundcharakter wiederholende Arbeit [schlug um] in eine entdeckende, grundlegende Arbeit“.

Mit dieser Wendung erfüllt sich die Novellenform, ab jetzt werden die Kapitel des Textes immer kürzer, das Tempo beschleunigt sich, während sich das Stipendium dem Ende zuneigt. Einige selbstreferenzielle Hinweise – manche Überschriften des geplanten Essays sind auch zugleich Überschriften der Novelle – sprechen dafür, dass die Novelle der Essay ist, von dem sie erzählt – nur nicht als Essay über Beckett in Ussy, sondern als Versuch, über Beckett in Ussy einen Essay zu schreiben, der aber eine ganz andere Richtung als geplant genommen hat.

Herausgekommen ist mit dieser „mise en abyme“-Konstruktion eine vielschichtige Künstlernovelle, die ganz unangestrengt, ohne konstruiert zu wirken wie in so mancher postmodernen Metafiktion, die unerwartete Entstehung von „Primärliteratur“ aus bloßer „Sekundärliteratur“, die Geburt von originärer Kunst aus zufällig sich einstellender Kunsterfahrung zum Thema hat. Sie endet mit der kleinen Pointe, dass das so anregende anonyme musikalische Gegenüber sein Gesicht zeigt und auf den Balkon hinaustritt.

Es ist, alles in einem, eine Novelle über den Schreibprozess, eine Erinnerungsnovelle und eine über ästhetische Erfahrung als Selbsterfahrung sowie über die intermedialen Beziehungen von Literatur und Musik: den ganzen Text durchsetzen immer wieder Notenzitate aus den gehörten Werken. Doch diese Mehrschichtigkeit überfrachtet die Erzählung keineswegs. Nicht zuletzt durch die mit dem Charakter des Instruments Tuba anklingende leise Komik kommt das in moderner Literatur altbekannte Sujet der Schreibblockade auf einmal ganz leicht daher; die Novelle ist – anders als man es bei dem Sujet gewohnt ist – durchaus welthaltig, wenn „Welt“ auch „Innenwelt“ bedeuten kann. Anders als bei Buschs „feindlichen Nachbarn“ ist es zwischen den beiden Künstlern zu einer schöpferischen, wenn auch einseitigen, Symbiose gekommen. Die Erzählung, die auch beweist, dass das etwas aus der Mode gekommene Genre der Künstlernovelle durchaus noch gegenwartstauglich ist, bildet das Mittelstück einer Trilogie von Künstlernovellen des 54-jährigen Darmstädters Rainer Wieczorek, deren letzter, noch ausstehender Teil Anlass gibt zu hohen Erwartungen.

Titelbild

Rainer Wieczorek: Tuba-Novelle.
Dittrich Verlag, Berlin 2010.
121 Seiten, 14,80 EUR.
ISBN-13: 9783937717418

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