Statistisch überfrachtet

Bogdan Musials Studie über „Stalins Beutezug“ verfehlt ihr Thema

Von Klaus-Jürgen BremmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Jürgen Bremm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Stalin in den 1920er- Jahren die Macht in der Sowjetunion übernahm, bearbeiteten Russlands gottesfürchtige Bauern ihr Land zum Teil noch mit dem Holzpflug. Bei seinem Tod knapp 30 Jahre später hinterließ der Diktator sein Imperium mit Atommeilern ausgestattet und als einzige konkurrierende Supermacht zu den Vereinigten Staaten. War aber dieser ökonomische und vor allem technologische Quantensprung des Riesenreiches innerhalb eines Menschenalters allein die Folge eines rücksichtslosen Beutezuges, den die siegreiche Sowjetunion seit 1945 in Deutschland und in den anderen eroberten Gebieten Osteuropas durchführte? So sieht es jedenfalls der polnische Historiker Bogdan Musial, der nun die Fortsetzung seiner beachtlichen Studie „Kampfplatz Deutschland“ vorgelegt hat. Seine zentrale These formuliert er in bemerkenswerter Übereinstimmung mit dem – sonst meist eigenwillig von den Verlagen bestimmten – Untertitel des Bandes gleich in der Einleitung: Ihre riesige Kriegsbeute an Maschinen und Industrieanlagen ermöglichte angeblich der Sowjetunion nach 1945 nicht nur den Wiederaufbau, sondern auch den Ausbau und die Modernisierung der eigenen Wirtschaft, wozu sie aus eigener Kraft niemals in der Lage gewesen wäre.

Wer nun aber als Leser eine mit statistischen Fakten untermauerte Untersuchung über den wirtschaftlichen Aufstieg der Sowjetunion nach dem Krieg mittels geraubter deutscher Technologie erwartet hat, wird von Musials Buch maßlos enttäuscht sein. Es irritiert nicht allein, dass der Autor den vorangehenden deutsch-sowjetischen Beziehungen von 1939-45 bereits drei der insgesamt vier Teile seiner Studie widmet, ehe er sich endlich ausführlich den sowjetischen Demontagen in Ostdeutschland seit 1945 zuwendet. Für sein eigentliches Thema, den wirtschaftlichen Aufstieg der Sowjetunion zur Weltmacht, hat er zum Schluss kaum noch 20 Seiten übrig, auf denen er halbherzig versucht, seine Hauptthese mit dem kurzfristigen Aufschwung in der sowjetischen Automobilindustrie zu belegen. Überzeugend wirkt das nicht, auch wenn er noch einen bestätigenden Aufsatz des französischen Sowjetexperten Alain Besançon aus dem Jahre 1980 zitieren kann, in dem dieser der Sowjetwirtschaft jeden inneren Wachstumsimpuls absprach.

Zu diesem zentralen Manko seines Buches kommt, dass Musial über fast 400 Seiten eine endlose und übermüdende Aneinanderreihung statistischer Daten etwa über sowjetische und deutsche Panzerproduktionen präsentiert, mit denen er belegen will, dass Stalins Schwerindustrie im Krieg gegen Hitlerdeutschland ohne die vorangegangen Lieferungen moderner deutscher Anlagentechnologie kaum ihre beeindruckenden Produktionsrekorde hätte erzielen können.

Von mangelnde Bearbeitung des Textes zeugt wiederum eine Stelle über NKWD-Chef Lawrenti Berija, der am 10. Oktober 1942 an Stalin berichtete, dass seine hinter der Front operierenden Sperrkommandos insgesamt fast 1,2 Mio vermutliche Fahnenflüchtige und Kriegsdienstverweigerer festgenommen hätten. Dieser Passus von zehn Zeilen taucht mit allen statistischen Untergliederungen nur zehn Seiten beinahe wortgleich wieder auf.

Weshalb sich Musials Studie überhaupt mit der fraglos brutalen Mobilisierung der sowjetischen Gesellschaft im Krieg befasst, bleibt das Geheimnis des Autors, der offenbar keine Gelegenheit verstreichen lassen will, dem ihm persönlich verhassten Kommunismus stalinistischer Prägung als gigantische Menschenschlächterei darzustellen. Dafür gibt es sicher gute Gründe, doch mit dem selbst gesetzten Thema, der systematischen Plünderung Deutschlands und dem Aufstieg der Sowjetunion zur Weltmacht, hat das alles nur wenig zu tun.

Musials unermüdliche Aufzählung statistischer Details, von denen einige gewiss interessante, manchmal sogar absurde Perspektiven eröffnen – etwa auf eine Sowjetarmee, die ihren gigantischen täglichen Alkoholbedarf auch durch die Requirierung rumänischer Schnapsbrennereien zu decken versucht – tragen in ihrer Gesamtheit nicht zur Stützung seiner Hauptthese bei. Gewiss belegen sie eindrucksvoll, dass in der Endphase des Krieges und sogar in den ersten Friedensjahren eine flächendeckende und organisierte Plünderung der damals noch hoch entwickelten mitteldeutschen und schlesischen Industriegebiete stattgefunden hat, die schließlich die Überlebensfähigkeit der späteren DDR und damit im Grunde des gesamten Sowjetimperiums ernsthaft in Frage stellte. Musial räumt sogar selbst ein, dass der tatsächliche Grund für den gigantischen industriellen Vandalismus hauptsächlich mit Stalins Absicht zu tun hatte, den raschen Wiederaufstieg Deutschlands zu verhindern.

Die unter kriegsmäßigen Bedingungen vollzogene Plünderungsaktion hatten dagegen kaum den gewünschten Effekt für die Sowjetwirtschaft, wie es für jeden Wirtschaftsfachmann klar auf der Hand liegen dürfte. Die zum Teil längst abgeschriebenen Anlagen und Maschinen besaßen – nach äußerster kriegsbedingter Beanspruchung – oft nur noch Schrottwert. Allein schon ihr Transport und ihre sachgemäße Lagerung überforderten das marode und überlastete Verkehrswesen der Sowjetunion in jeder Hinsicht.

Musial gibt hierfür auch eine Fülle drastischer Beispiele. Selbst hochwertige Anlagen, wie das milliardenschwere Equipment der oberschlesischen Hydrieranlagen, verrotteten mangels Lagerraum in aufgebrochenen Kisten entlang der sibirischen Eisenbahn und wurden niemals wieder aufgebaut. Damit aber und mit vielen anderen bizarren Beispielen, die beim Leser nur noch entsetztes Kopfschütteln auslösen dürften, schwächt der Autor letztlich seine zentrale These vom sowjetischen Aufschwung durch systematischen Raub. Ohne vernünftige Bauanleitungen oder ausreichend dimensionierte Werkshallen, ohne Fachleute und Ersatzteile konnte von einer rentablen Wiederverwertung der demontierten Industrieanlagen keine Rede sein. Was immer auch den bedingten ökonomischen Aufschwung der Sowjetunion nach dem Krieg bewirkt haben mag, kann Musial mit seinen weit ausholenden Aufzählungen statistischer Fakten nicht erklären. Dem Rezensenten bleibt schließlich keine andere Wahl, als seine ambitionierte Studie mit einem glatten „Thema verfehlt“ zu bewerten.

Titelbild

Bogdan Musial: Stalins Beutezug. Die Plünderung Deutschlands und der Aufstieg der Sowjetunion zur Weltmacht.
Propyläen Verlag, Berlin 2010.
506 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783549073704

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch