Eine erstklassige Schriftstellerin zweiter Güte

Vor 50 Jahren starb die als bloße Unterhaltungsschriftstellerin unterschätzte Autorin Vicki Baum

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Sie zählt zu den wenigen noch immer nicht ganz vergessenen Autorinnen der Weimarer Republik. Allerdings dürften weit mehr Menschen an den Film denken als an das Buch, wenn sie den Titel ihres Werkes „Menschen im Hotel“ hören. Vor allem mit ihm – gleichviel ob er an das Buch oder den Film erinnert – wird zugleich ihr Name assoziiert: Vicki Baum.

Bei dem im Titel genannten Hotel handelt es sich um das „Grand Hotel“ in der deutschen Hauptstadt. Es mag zwar tatsächlich das „beste Hotel in Berlin“ sein, als das es vorgestellt wird. Seine Gäste sind dennoch alles andere als glücklich. Zumindest von den sechs ProtagonistInnen des Romans lässt sich das mit Sicherheit sagen. Diese sind ein adliger Juwelendieb, ein scheinbar etwas leichtlebiges Mädchen, eine traurig gealterte Primaballerina, ein scheiternder Fabrikdirektor und sein todkranker Buchhalter sowie der ebenso misanthrope wie lebensüberdrüssige Dr. Otternschlag, der mit entstelltem Gesicht aus dem Ersten Weltkrieg heimkehrte. Glücklich ist keiner von ihnen. Dennoch macht sich der Roman die pessimistische Weltsicht Otternschlags, für den das Leben „eine miserable Sorte von Dasein“ ist, nicht ganz zu eigen, sondern wirft einen fast reservierten Blick auf die Hoffnungen und Nöte seiner Figuren, deren Wege sich im Hotel nicht nur kreuzen, sondern sich gelegentlich auf fatale Art miteinander verschlingen. Dass die Hollywoodverfilmung kaum mehr als ein Skelett des Buches ist, kann nicht wirklich überraschen. Ein Ektoskelett. Es liegt an der Oberfläche.

Nun hat Vicki Baum wahrhaftig nicht nur diesen einen berühmten Roman verfasst, sondern annähernd vierzig weitere, wohl noch mehr Erzählungen sowie zahllose Essays, Artikel und Rezensionen, die sie in diversen Zeitschriften wie dem „Uhu“, der „Berliner Illustrierten“ oder der Modezeitschrift „Die Dame“ veröffentlichte. Nahezu unbekannt ist, dass sie zudem Theaterstücke für Kinder schrieb und unter dem Pseudonym „Der alte Gärtner“ in einer Zeitschrift mit dem Titel „Grüne Post“ sogar Ratschläge zur Gartenpflege erteilte.

Bereits 1919, also zehn Jahre vor „Menschen im Hotel“, war „Frühe Schatten“ erschienen, Baums erster Roman. Im Jahr darauf folgte „Der Eingang zur Bühne“. Wiederum ein Jahr später „Die Tänze der Ina Raffay“ sowie der Novellenband „Schlosstheater“. Und so ging es lange Zeit Jahr um Jahr fort. Kaum eines verging, ohne dass die Autorin ein weiteres literarisches Werk vorgelegt hätte. Das klingt nach Vielschreiberei und könnte vermuten lassen, dass die Kritik so Unrecht nicht hatte, die Baums Prosa als seichte Unterhaltungsliteratur abtat. So machte beispielsweise eine Rezension in der Zeitung „Die Rote Fahne“ am 18. 6. 1932 den Roman „Hell in Frauensee“ als „Schund“ nieder. Es sei „ein starkes Stück“ der „neue[n] Courths-Mahler“, dem Publikum ein „so hingeschludert[es]“ Werk „zuzumuten“, erregte sich das Zentralorgan der Kommunistischen Partei Deutschlands und zögerte nicht, eine deutliche Empfehlung auszusprechen: „Proleten sollten diesen Dreck in die Ecke feuern“.

Von der anderen Seite hetzte Hans Hauptmann in seinem ebenfalls 1932 erschienenen antisemitischen Pamphlet „Diskussionsbuch über die Judenfrage“ noch um ein vielfaches übler gegen die „Jüdin Vicki Baum“, deren „seichte, amoralische Sensationsromane“ die „systematische Vernichtung der arischen Kulturgüter“ betreiben würde.

Größeren literarischen Sinn als Kommunisten und Antisemiten bewiesen Erika und Klaus Mann, die Baum in dem gemeinsam verfassten Werk „Escape to Live“ für ihre „gutgeschriebenen, ungeheuer lebendigen, immer packenden, immer überzeugenden, manchmal ergreifenden Bücher“ priesen.

Baum selbst sah ihre literarische Befähigung nüchtern und klassifizierte sich nicht ohne Ironie als „erstklassige Schriftstellerin zweiter Güte“. Tatsächlich hat sie allerdings sogar manches Werk erster Güte verfasst. Eines davon sogar in nur zehn Tagen: „stud. Chem. Helene Willfüer“. Nachdem er vom Ullstein Verlag einige Jahre zurückgehalten worden war, erreichte der 1929 endlich erschienene Roman innerhalb von zwei Jahren sechsstellige Verkaufszahlen und seine fiktive Protagonistin wurde so berühmt, dass sie in der realen Welt für Zigarettenwerbung herhalten musste. Bei der angepriesenen Marke handle es sich um eine von der Ausnahmewissenschaftlerin entwickelte „Schlankheitszigarette“, versprach die Werbung. Ob Helene Willfüer das Schicksal, für Glimmstängel vermarktet zu werden, verdient hat, sei dahin gestellt. Baums Roman um eine junge Studentin jedoch, die den damals für Frauen noch um einiges dornigeren Weg einer wissenschaftlichen Karriere betrat, hatte den Publikumserfolg hingegen zweifellos verdient.

Im Zuge der Neuen Frauenbewegung erfolgte 1972 eine Neuausgabe des emanzipatorischen Werkes. Und so ganz unaktuell ist es auch heute noch nicht. Verhandelt es doch neben manch anderem auch die Frage der Vereinbarkeit von wissenschaftlicher Karriere und Mutterschaft. Denn im Roman wird die unverheiratete Doktorandin Helene Willfüer schwanger. Während der Kindesvater Suizid begeht, weigert sie sich im letzten Moment mit ihm in den Tod zu gehen und schwört sich: „Ich verdiene mein Kind, ich erkämpfe es, erleide es mir.“ All das wird sie im Laufe des Romans tatsächlich; ebenso wie alles andere, das sie erreichen wird. Denn Willfüer hat nicht nur von Kindesbeinen an „ein starkes Talent“, „das Glück aufzuspüren“, sondern hält es auch für ihre „Sache“, „mit einem harten Kopf durch eine harte Wand zu gehen.“ Gegen Ende des Romans ist sie als „Wissenschaftlerin von Rang“ bekannt und leitet einen Chemie-Betrieb. Und wenn sie auf der letzten Seite einen Heiratsantrag annimmt, so ist das durchaus kein Hollywood-kitschiges happy end, sondern „ein Experiment“, das sie „versucht“, wie zuvor schon so viele chemischer Art.

Wurde der Roman auch zum Verkaufserfolg, so geißelte ihn der lediger Mutterschaft abgeneigte Zeitgeist der ausgehenden Weimarer Republik als „schamlose, schweinische Sensationsmache“ und somit „schlimmer als Pornographie“, wie sich Baum in ihren Memoiren erinnert. Felix Salten, der Autor sowohl des im Gegensatz zu Baums Werk tatsächlich pornografischen Romans „Josefine Mutzenbacher“ wie auch des von Disney verfilmten sentimentalen Wald- und Wiesenbuches „Bambi“ lobte den Roman jedoch als „vortreffliches Buch“, das „virtuos erzählt“ sei und voller „männlicher Entschlossenheit da und dort die letzten Schleier von den Dingen hebt.“ Das allerdings musste durch das von ungebrochenem Geschlechtsdünkel zeugende Attribut „männlich“ von einer den weiblichen Emanzipationsbestrebungen zumindest nahestehenden Autorin als vergiftetes Lob empfunden werden. Baums eigener Blick auf das Werk war durchaus kritisch. Es sei „ein zuviel gefeiltes, daher ungleichmäßiges Buch“. Weit mehr schätzte sie hingegen ihren längst vergessenen Roman „Ulle der Zwerg“ und ihre ebenfalls im literarischen Orkus verschwundene Novellensammlung „Die anderen Tage“. Sie sind „die beiden Bücher, die ich für meine besten halte“.

Baums Nähe zu weiblichen Freiheitsbestrebungen – von Frauenbewegung konnte man in der ausgehenden Weimarer Republik nicht mehr reden – wird nicht nur in ihrem Wissenschaftlerinnen-Roman deutlich, sondern auch in manch einem ihrer journalistischen Beiträge und in einigen Jugend-Passagen ihrer Autobiografie „Es war alles ganz anders“. Dort erinnert sie sich, ihre Generation sei es gewesen, „die der Frau zu ihren Rechten verhalf und die sexuelle Frage von alten Fesseln befreite; wir experimentierten als erste mit neuen psychologischen Begriffen, mit sozialen Ideen“. Ihr ganz persönliches Emanzipationsbestreben äußerte sich schon früh in dem Willen, sich „selbst ernähren“ zu können und in dem Wunsch nach der Freiheit, „zu heiraten wann und wen ich wollte.“ Oder vielleicht auch gar nicht, „denn natürlich war jede Ehe ein Gefängnis, in welchem unschuldige Frauen eine lebenslängliche Strafe verbüßten.“ Dennoch heiratete die 1906 gerade mal Achtzehnjährige Max Prels, für den sie während der kurzen Ehe Geschichten schrieb, die er unter seinem Namen veröffentlichte. Vier Jahre nach der Hochzeit erfolgte 1910 die Scheidung.

Nun ist durchaus nicht immer alles feministisches Gold, was Baum über Männer, Frauen und Geschlechtsliebe schrieb. Gelegentlich glänzt es nicht einmal. Denn trotz ihrer Nähe zur Frauenemanzipation hing Baum nicht nur in ihrer posthum 1962 erschienenen Autobiografie einigen Geschlechterklischees und Männlichkeitsidealen an, die selbst für die 1950er-Jahre konservativ, ja geradezu angestaubt waren, jedenfalls aber biologistisch sind. „Frauen“ schreibt sie in ihren Memoiren, „denken in ethischen, moralischen und ideellen Fragen anders als Männer. Nichts fällt ihnen leichter, als in künstlerischen Dingen, wenn es der Familie, dem Haushalt, den Kindern, den Freunden zugute kommt, Kompromisse zu schließen. Dank unserer Natur und unserer biologischen Bestimmung sind wir Frauen anpassungsfähig und realistisch.“ Die „besten Männer, wirkliche Männer“, meint sie weiter, könnten hingegen „stets nur einen kleinen Teil ihrer selbst, ihrer Zeit und ihrer Gedanken an Frauen und Liebe verschwenden“. Allerdings verbindet sie dieses landläufige Klischee sogleich mit einer gar nicht mehr so konservativen Warnung an ihre Geschlechtsgenossinnen: „Glauben Sie mir, meine Damen, der große Liebhaber ist auf die Dauer ein schlechtes Geschäft!“

Doch der konservativen Biologismen sind noch einige mehr. Ihren im Laufe der Jahre immer stärker empfundenen Kinderwunsch knüpft sie in ihren Memoiren gar an eine biologistische Mutterschaftsideologie, wenn sie „den wachsenden biologischen Zwang, Kinder zu bekommen“ zu „spür[en]“ glaubt. Und diesmal fällt die Warnung an ihre Mitfrauen nicht nur konservativ, sondern schlichtweg reaktionär aus: „Ich möchte hier noch auf etwas hinweisen – es ist eins der wenigen Dinge, die mir wirklich wichtig erscheinen. Ich möchte sagen, wie tief ich jede Frau bedaure, die darauf verzichtet, ihr Kind zu stillen. Meiner Erfahrung nach ist nichts, aber auch nichts mit dem Glücksempfinden, den seligen Schauern und dem Gefühl höchster Erfüllung zu vergleichen, die man darin findet. Es spricht von Gefühlskälte, sich das Stillen seines Neugeborenen zu versagen. Der weibliche Zyklus besteht aus Reifen, Empfangen, Gebären und Nähren, und die Frau, die auch nur eine dieser Stationen auslässt, bezeugt damit ihre Frigidität.“ Kurz: eine Frau ohne Kind ist ihr ein „bedauernswerte[r] Gefühlskrüppel“.

Bedenklich ist auch, dass in dem 1951 erschienenen Roman „Marion“ ausgerechnet ein zweifacher Sexualmörder als eine der sympathischsten Figuren gezeichnet wird. Wenn die Ich-Erzählerin räsoniert „etwas von Tod und Mord ist wohl auf dem Grund jeder Liebe, jedes Kusses“, fehlt nicht viel und das Buch exkulpierte ihn von seinen Verbrechen.

Nicht weniger arg ist Baums Homophobie, unter der sie zumindest in ihren letzten Jahren litt. Werden Homosexuelle in „Marion“ als „merkwürdiges Zwielicht der Geschlechter“ geschmäht, so muss man diese Auffassung nicht unbedingt der Autorin zuschreiben. Doch wird die Annahme, es handele sich dabei tatsächlich um die Meinung Baums, zumindest durch eine Passage in ihrer Autobiografie unterfüttert, in der sie die „zunehmenden Neurosen und Neurotiker“ beklagt, welche die amerikanische „Lebensform in Gestalt von Homosexuellen und Rauschgiftsüchtigen hervorbringt; Trunksucht, Blutschande, hysterische Epilepsie und ganz gewöhnliche hochgepäppelte Angst, und Zwangsvorstellungen.“

Waren ihr Homosexualität und Homosexuelle offenbar so fremd wie nur irgend möglich, so waren ihr die USA und die dortige Lebensweisen zur Zeit der Niederschrift ihrer Autobiografie wohl bekannt. Nachdem sie 1931 zur Filmpremiere von „Menschen im Hotel“ nach New York gereist war, wandert sie schon ein Jahr später in die USA aus. 1938 nahm sie die amerikanische Staatsangehörigkeit an, lebte meist in Los Angeles, lieber aber in New York. Und sie legte – fast bis zuletzt – eine rege Reisetätigkeit an den Tag, die sie zu längeren Aufenthalten nach Ägypten, China und vor allem nach Bali führten und die sich auch in ihrem literarischen Werk niederschlagen sollten, das sie seit 1941, dem Jahr in dem „The Ship and the Shore“ erschien, nur noch auf Englisch schrieb.

Am 29.8. jährt sich der Todestag der 1960 verstorben Autorin mit dem emanzipatorischen Impetus und dem fatalen Hang zu konservativen Geschlechterbiologismen zum fünfzigsten Mal.