Mathematisch-poetische Versuchsanordnung

Oswald Egger versammelt in seinem Band „Die ganze Zeit“ fantasievolle und doch logische Gedichte

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Südtiroler Oswald Egger gilt als einer der wortgewandtesten zeitgenössischen Schriftsteller im deutschsprachigen Raum. Seine Prosa-Poesie ist längst zu einem unverwechselbaren Bestandteil der deutschen Gegenwartslyrik geworden. Zahlreiche Gedichtbände – unter anderem „Prosa, Proserpina, Prosa“ (2004) oder „Diskrete Stetigkeit“ (2008) – beweisen seinen unvergleichlichen Sprachenthusiasmus.

Eggers literarisches Werk wurde schon mit zahlreichen Auszeichnungen bedacht. In diesem Jahr erhielt der Dichter den neu eingerichteten und hoch dotierten Oskar-Pastior-Preis. Die Jury, der unter anderem auch Herta Müller angehörte, begründete ihr Wahl damit, dass Oswald Egger in seinem Werk die vielstimmigen Erscheinungs- und Wahrnehmungsformen der Welt in der Sprache erkunde.

Nun hat der Suhrkamp Verlag mit „Die ganze Zeit“ einen Mammut-Lyrik-Prosa-Band von Oswald Egger auf knapp 800 Seiten vorgelegt. Er beginnt mit dem euphorischen Bekenntnis des Dichters: „Ich werde mich also auch noch über die Natur der Dinge der Natur erheben, stufenweise emporsteigen zu dem, der mich gemacht hat …“.

Es sind Naturbeobachtungen, Gedanken, Erwartungen und Erinnerungen, die zu einem regelrechten Strom anschwellen und verschwimmen. „Manches stürzte scharenweise hervor“, wie Egger über seinen Arbeitsprozess bemerkt, „während ich anderes wollte und suchte“.

Wort für Wort erschließt er sich so die ganze Zeit. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bilden nicht mehr länger nur drei unterschiedliche Zeitmaße, sondern liegen deckungsgleich übereinander. Alles verwandelt sich in eins. Für Egger gibt es immer eine weitere Gegenwart, in der die Vergangenheit als Zukunft auftaucht. Die ganze Zeit ist gegenwärtig, also zeitlos.

Ob Farnblätter, Krüppelpinien oder Weißdornhecken – stets zeichnet Egger innere Abbilder der äußeren Gegenstände. Immer lauschen die Verse dem Herzschlag der Natur und des Wortes. In Naturdingen wie Felsen, Bäumen oder Wolken sieht er Gestalten hinein, so entsteht ein Ineinanderübergehen von Erkennen und Empfinden.

Der Dichter hat die knapp 800 Seiten dieses „lyrischen Romans“ typografisch selbst gestaltet. Die Verse besitzen eine innere Geometrie, häufig sind es Satz-Mosaike aus Wort-Gedanken – quasi lyrische Einlegearbeiten. Wichtig ist aber immer die Atmosphäre des Gedankens und der Aussage.

Seit Langem arbeitet Oswald Egger an seiner Naturwissenschaft des Schreibens, in der die Botanik zur mathematischen Gleichung wird, zur sinnlichen Mathematik. „Die ganze Zeit“ ist ebenfalls eine solche naturwissenschaftlich-poetische Versuchsanordnung. Damit lotet der Autor die Möglichkeiten des experimentellen Schreibens noch einmal weiter aus. Der gewichtige Band behandelt abstrakte Zusammenhänge in einer lyrischen Sprache, die auch als Prosa gelesen werden kann.

Titelbild

Oswald Egger: Die ganze Zeit.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2010.
741 Seiten, 44,80 EUR.
ISBN-13: 9783518421338

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