Von Ausnahmeboten und Wortsturmführern

Der Zweite Weltkrieg war fast zu Ende, als die Thyssen-Tochter Margit von Batthyány noch einmal so richtig feiern ließ. Über einen Sammelband zu Elfriede Jelineks Stück „Rechnitz (Der Würgeengel)“

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Der Deutsche ist der eifrigste Reisende und Redende, den ich kenne“, sagt eine der anonymen „Boten“-Stimmen in Elfriede Jelineks postdramatischem Theatertext „Rechnitz (Der Würgeengel)“ (2009). „Er reist und redet um sein Leben. Er reist und redet für sein Leben gern. Wenn er kommt, sollten wir aber besser woanders sein. Sonst kommt er uns wieder mit Krieg.“

Auch im burgenländischen Dorf Rechnitz, nahe an der ungarischen Grenze gelegen, regierte dieses spezielle deutsche Wesen einmal äußerst effektiv. Und zwar in Person der Schlossherrin und Thyssen-Tochter Gräfin Margit von Batthyány und ihrer nationalsozialistischen Freunde, die dort in der Nacht vom 24. auf den 25. März 1945 – also kurz vor dem Einmarsch der Roten Armee – etwa 180 Juden ermorden ließen oder sogar eigenhändig liquidierten. Der Massenmord geschah im Umfeld eines Festes, das die SS-„Gefolgschaft“ der Gräfin, unter anderem mit deren Liebhabern Franz Podezin und Hans Joachim Oldenburg, ausgelassen feierte.

Typisch für Österreich ist es, dass die einheimische „Volksgemeinschaft“, die dieses Verbrechen deckte, nach wie vor intakt ist. Die noch lebenden Mitläufer und ihre Nachkommen schweigen die Exzesse in ihrem Dorf tot. In den 1950er-Jahren gab es in Rechnitz Feme-Morde, mit denen wichtige Zeugen ‚beseitigt‘ wurden – und seither sagt niemand mehr etwas aus. Die Massengräber, von denen es wohl mehrere gibt, bleiben unauffindbar.

Jelineks Stück wurde erstmals 2008 von Jossi Wieler an den Münchner Kammerspielen inszeniert und 2009 mit dem Mühlheimer Dramatikerpreis ausgezeichnet. Es ist ein extrem verschlüsselter Text, den vor allem Deutsche, die über die lokalen Hintergründe in der Regel nicht informiert sind, auf Anhieb kaum verstehen können. Zumindest sollte man dazu die Debatte präsent haben, die in Reaktion auf David R. L. Litchfields F.A.Z.-Artikel über die „Gastgeberin der Hölle“ im Jahr 2007 in der Presse entstand und hierzulande ein kurzzeitiges Erstaunen über Vorgänge erzeugte, die man in der österreichischen Linken bereits seit Jahrzehnten diskutiert.

Der von Pia Janke, Teresa Kovacs und Christian Schenkermayr herausgegebene, materialreiche Sammelband „Die endlose Unschuldigkeit“ schafft hier Abhilfe. Beim Wiederlesen entpuppt sich Jelineks Text nach der Kenntnisnahme dieses Buchs plötzlich als polemischer Angriff, vor allem auch auf deutsche Vorzeige-Intellektuelle wie Wolfgang Benz und Hans Magnus Enzensberger, deren Äußerungen zur NS-Geschichte die Nobelpreisträgerin der Lächerlichkeit preisgibt. Walter Manoscheks Buch zum „Fall Rechnitz“ sollte man gleich auch noch dazu mitlesen, um sich über weitere historische Einzelheiten zu informieren – zumal es auch noch einen exklusiven Jelinek-Text zum Thema enthält.

Vor allem Herr Benz sollte diese Publikationen zur Kenntnis nehmen, damit er nicht noch einmal wie 2007 im Deutschlandradio erzählt, er sei „skeptisch“, ob ein Massaker wie das in Rechnitz so kurz vor der deutschen Kapitulation überhaupt noch habe stattfinden können. So sind sie eben, die deutschen „Ausnahmeboten“ oder auch „Wortsturmführer, abgekürzt Wortan“, als die sie Jelinek in ihrem Stück vorstellt.

Anmerkung der Redaktion: Die Rezension erschien bereits in „Konkret“ 5/2010.

Titelbild

Elfriede Jelinek: Rechnitz (Der Würgeengel). Über Tiere.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2008.
350 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783499249846

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

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Walter Manoschek (Hg.): Der Fall Rechnitz. Das Massaker an Juden im März 1945.
Wilhelm Braumüller, Wien 2009.
420 Seiten, 28,90 EUR.
ISBN-13: 9783700317142

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Kein Bild

Pia Janke / Teresa Kovacs / Christian Schenkermayr (Hg.): "Die endlose Unschuldigkeit". Elfriede Jelineks Rechnitz (Der Würgeengel).
Mit einer MP3-CD.
Praesens Verlag, Wien 2010.
482 Seiten, 37,00 EUR.
ISBN-13: 9783706905923

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