Unter Freuds Mantel

Atemberaubende Selbstbefragung: Christa Wolfs lang erwarteter Roman „Stadt der Engel“

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie wird man die beste Schriftstellerin der Welt? Für Doktor Kim, den sympathischen Arzt, ist das einfach: Sie solle regelmäßig meditieren, rät er der vor ihm liegenden, von Hüft- und anderen Schmerzen geplagten ostdeutschen Autorin. Und, während er in seiner Praxis in Los Angeles ihren Körper mit Nadeln spickt: Sie solle „nicht erschrecken vor dem, was [sie] da sehen würde, und [sich] nicht scheuen, das auszudrücken.“

So erfrischend selbstironisch wie in „Stadt der Engel“ war Christa Wolf wohl noch nie. Gleich bei der Ankunft in den USA erregt ihre namenlose Erzählfigur, die einmal mehr der Autorin zum Verwechseln ähnlich sieht, mit ihrem trotzig vorgelegten blauen DDR-Pass das Aufsehen des Beamten: „Are you sure this country does exist?“ Eine im Herbst 1992 allzu berechtigte Frage. Und die für Neuankömmlinge im Hotelzimmer bereit liegende „First day survival information“ enthält zwar viel Nützliches – nur leider keine Verhaltensregeln für den Fall persönlicher Erdbeben.

Ein solches hat die Ich-Erzählerin gerade hinter sich – und ein weiteres, wie sich bald zeigt, vor sich. Wer hier auf Einladung des Getty Center ein mehrmonatiges Stipendium antritt, braucht offenkundig nichts nötiger als Abstand. Hinter der Protagonistin liegen: das erschütternde Erlebnis einer gewaltfreien „Volkserhebung“ (keiner „Wende“, wie sie betont, da das Wort den wahren Charakter der Ereignisse verschleiere). Die plötzlich zum Greifen nahe Hoffnung, die Träume von einer besseren sozialistischen Gesellschaft könnten doch noch Wirklichkeit werden. Das Glück der größtmöglichen Nähe zwischen den Intellektuellen und dem von seinem eigenen Mut berauschten Volk. Schließlich der Schock beim Anblick trunkener Menschen mit vollen Tüten und Taschen nach dem Mauerfall: „Dies also war des Pudels Kern, aber was hatte ich denn gedacht.“ Und, nicht zu vergessen: die umgehende Entsorgung der bislang gefeierten Autorin durch die nun westdeutsch bestimmte Kritik.

„Stadt der Engel“, der lang erwartete neue Roman der 81-jährigen Autorin, ist vieles: ein Buch der Erinnerung und des Abschieds. Eine waghalsige, in zehnjähriger Schreibarbeit entstandene, atemberaubende Selbstbefragung, ja Lebensbeichte. So ungeschützt präsentierte sich Christa Wolf noch nie: „Jede Zeile, die ich jetzt noch schreibe, wird gegen mich verwendet werden.“ Formal ist das Buch eine Autobiografie in Romanform, die Fortsetzung von „Kindheitsmuster“ von 1976, in der die Autorin erneut der Frage nachgeht: Wie sind wir so geworden, wie wir sind?

Zu Grunde liegen ihr anscheinend die realen Tagesprotokolle der Autorin aus den Monaten bis Frühjahr 1993, angereichert mit fiktiven, teils fantastischen Elementen, etwa dem dunkelhäutigen Engel Angelina, der in der Stadt der Engel die Protagonistin zurück ins Leben führen wird. Doch wäre dies kein Roman Wolfs, enthielte er keine die Chronologie durchkreuzende Tiefendimension. Dass aus dem Tagebuch dieser Monate ein Erzählgewebe wird, in dem sich die Zeiten durchdringen, dafür sorgen die Erinnerungen an ihr Leben in der NS-Zeit und vor allem in der DDR.

Sowie eine Jahre später am Schreibtisch sitzende, zwischen erster und zweiter Person wechselnde Erzählerin in Endzeitstimmung, die immer labyrinthischere Satzkonstruktionen spinnt. Von der USA-Stipendiatin, ihrem früheren Ich, durch eine „Epochenscheide“, den Anschlägen von New York, getrennt, erscheint ihr diese als „noch immer ein wenig naiv“. Zwei Gesellschaftssysteme hat die Erzählerin schon enden sehen, und mit dem Gefühl, ein drittes könnte folgen, ist sie, zwei Jahre nach dem Lehman-Brothers-Bankrott, wohl nicht allein. Gegen Ende legt sie ein überraschendes Bekenntnis ab, beinahe eine Absage an alle Utopien: „Da wurde mir bewusst, erinnere ich mich, dass ich gerne in meiner Zeit lebte und mir keine andere Zeit für mein Leben wünschen konnte. Trotz allem? Trotz allem.“

Die Stipendiatin aber, sie gibt sich alle Mühe, Distanz zu finden: Freundet sich mit anderen Stipendiaten an. Besucht Ausstellungen und Museen. Berauscht sich an dem „unwirklichen Licht“. Lässt sich abends vor dem Fernseher von der „reifen Menschlichkeit“ der Star-Trek-Crew trösten. Beobachtet die allgegenwärtigen homeless people. Beschäftigt sich mit den Schicksalen der einst aus Nazi-Deutschland hierher geflohenen Exilanten, darunter das einer mysteriösen „L.“, deren Briefe ihr eine verstorbene Freundin vererbte. Liest das Buch einer buddhistischen Nonne, die empfiehlt, einfach loszulassen und vor allem sich selbst nicht so wichtig zu nehmen. Trifft kalifornische Linksintellektuelle, Holocaust-Überlebende und Vertreter der „second generation“.

Doch mit wem immer sie auch spricht, stets lautet die Frage: „What about germany?“ Die Bilder brennender Asylantenheime bestimmen die US-Nachrichten. Das Bekenntnis der nicht weniger ratlosen Autorin, trotzdem in dieses Land zurückkehren zu wollen, stößt auf Unverständnis. Wenig später lautet die Frage schon: Was ist mit Christa Wolf? Im Januar 1993, auf dem Höhepunkt der Stasi-Hysterie, wird den Medien ihre „Täterakte“ bekannt – eine dünne Mappe, die wenige harmlose Treffen in den Jahren 1959 dokumentiert, an die die Autorin keine Erinnerung mehr hatte. Die beiden Buchstaben „IM“ „schleuderten dich unvorbereitet in eine andere Kategorie von Menschen“.

Während das Faxgerät immer weitere Ausläufer der in Deutschland grassierenden medialen Skandallust in die USA transportiert und sich die Autorin vor Scham kaum noch aus ihrem Hotelzimmer traut, beginnt sie sich erstmals jener Frage zu stellen, die ihr wichtiger als alle anderen scheint und die sie an die Grenzen ihrer Lebenskraft führen wird: „Wie konnte ich das vergessen?“ Und zwar ausgerechnet sie: „es geht um Gedächtnis, es geht um Erinnerung: mein Thema seit langem, verstehst du. Und das hatte ich vergessen können.“

Nun gilt anders als in der Politik in der Literatur die Regel: Je dünnhäutiger, desto besser. Doch ganz ohne Schutz geht es auch bei einer Christa Wolf nicht. Sigmund Freuds „Mantel“, das symbolische Geschenk eines Freundes, ermöglicht das letztlich banale Eingeständnis einer Verdrängung. Was die schmerzvolle Selbstanalyse in immer neuen Erinnerungsbruchstücken zu Tage fördert, ist im Ergebnis nichts Neues, deckt sich mit aus Interviews bekannten Selbsterklärungen Wolfs: Autoritätsgläubigkeit, Schuldgefühle, ein dominierendes Über-Ich, um nur das Wichtigste zu nennen. Dass in der Gegenwart der Versuch unternommen wird, die „Explosionen in den Magistralen des Kapitals“, also die Finanzkrise, mit einer angeblich genetisch verankerten menschlichen Gier zu erklären, kommentiert ihre Erzählerin mit Sarkasmus. Da drängt sich die Frage auf, ob es nicht eine ähnlich unzulässige Vereinfachung darstellt, eine komplexe Lebensgeschichte voller Widersprüche und Konflikte auf psychoanalytische Schlagworte zu reduzieren.

„Wann werde ich, oder werde ich überhaupt je noch einmal ein Buch über eine ferne erfundene Figur schreiben können; ich selbst bin die Protagonistin, es geht nicht anders, ich bin ausgesetzt, habe mich ausgesetzt“: So schrieb Christa Wolf in ihren gesammelten Tagesprotokollen „Ein Tag im Jahr“. Für ihr im Alter eher stärker gewordenes Misstrauen gegenüber Fiktion und Erfindung, für ihre Angst vor der allzu leichten Verfälschung durch die Mittel der Einbildungskraft ist ihr neuer „Roman“ ein beredtes Zeugnis.

Ein wenig misstrauisch wird aber auch der Leser angesichts der vielen Stipendiaten und linken US-Intellektuellen, denen Christa Wolfs Protagonistin begegnet und die sie mit ihren Ansichten in Sachen Kapitalismuskritik glatt noch einmal übertreffen. Hätte etwas mehr Vielstimmigkeit, erfunden oder nicht, dem Roman nicht gut getan? Und apropos Verfälschung: Kommt es einer solchen nicht nahe, wenn man auch noch den Nebenfiguren eigene Gedanken in den Mund legt – nur um provokante Thesen für den Leser akzeptabler zu machen, indem sie nicht die Haupt- und Identifikationsfigur äußert, sondern in diesem Fall ein englischer Historiker?

Am 27. September 1992 erklärt Christa Wolf, wie man in „Ein Tag im Jahr“ nachlesen kann, einem „R.“ beim Gang über einen Friedhof bei Santa Monica mit Blick auf das wiedervereinigte Deutschland die „Gesetzmäßigkeiten der Kolonisierung“, zu denen unabdingbar die „Auswechslung der Eliten“ als bewährte „Herrschaftsstrategie“ gehöre. In „Stadt der Engel“ ist es dagegen die konsternierte Protagonistin, die von einem Mitstipendiaten namens Bill Geschichtsunterricht unterhält: Bei jeder Kolonisierung, so Bill, sei es das erste, „die Religion, den Glauben der Unterworfenen auszurotten… Ihr erfahrt das gerade, wie?“

Neu sind in „Stadt der Engel“ dagegen einige bislang unbekannte, Christa Wolf heute besonders peinvolle Episoden ihrer Biografie. Etwa ihre Verhaftung als illegale Wahlhelferin in West-Berlin 1954, die eine hoffnungslos vernagelte, stalintreue, in ihrer Aggressivität gegen die Polizeiorgane des Klassenfeindes erschreckende Junggenossin zeigt. „Was bin ich bloß damals für eine dumme Kuh gewesen“, lautet das entwaffnende Eingeständnis der sich erinnernden Stipendiatin. So liegt denn der Wert dieser Selbstbefragung mehr noch als in seinen Ergebnissen in ihrer, trotz einiger Schwächen, heute beispiellos gewordenen ethisch-ästhetischen Radikalität. Doktor Kim wäre stolz auf seine Patientin.

Titelbild

Christa Wolf: Stadt der Engel. Roman.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2010.
415 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-13: 9783518420508

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