Ein Protagonist der deutschen Sozialgeschichte

Jan Eike Dunkhase hat eine Dissertation über Werner Conze geschrieben, den die Geschichte der Judenvernichtung nie interessierte

Von Klaus-Jürgen BremmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Jürgen Bremm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es entbehrt nicht der Ironie, wenn nun ausgerechnet über den wohl einflussreichsten Sozial- und Strukturhistoriker der ehemals Bundesrepublik eine biografische Studie vorgelegt wird. Sofern es aber darum geht, über Brüche, Wandlungen und Kontinuitäten in der deutschen Historiografie des vergangenen Jahrhunderts Rechenschaft abzulegen, so ist das fraglos erfüllte Historikerleben des Heidelberger Ordinarius Werner Conze als individueller Brennspiegel dieser Entwicklungen keine schlechte Wahl. Als einziger Sohn einer klassischen norddeutsch-protestantischen Bildungsbürgerfamilie am letzten Tag des Jahres 1910 geboren, war die berufliche Laufbahn des nachmaligen Leiters des Heidelberger Instituts für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte von Anfang an vorgezeichnet.

Schon der Großvater, der renommierte Archäologe Alexander Conze, genoss als Leiter des Kaiserlichen Archäologischen Instituts internationales Ansehen, während Conzes Vater später als Richter und hoher preußischer Verwaltungsbeamter Karriere machte. Als junger Historiker geriet Werner Conze zu Beginn der 1930er-Jahre rasch in das ideologische Fahrwasser der so genannten Konservativen Revolution. Geprägt von seinen akademischen Lehrern Gunther Ipsen und dem zum Protestantismus konvertierten Juden Hans Rothfels wiesen seine ersten Studien über Bauerntum und Agrarordnungen in Osteuropa auch eine prekäre geistige Nähe zu den rassistischen Lehren der Nationalsozialisten auf. Die angebliche Macht des Judentums in Wilna beschrieb der Historiker, der später als einer der wenigen seiner Zunft im deutschen Bundestag sprechen durfte, in einer Studie aus dem Jahre 1938 als „unerträglichen Fremdkörper“. Aus der bündischen Jugend der 1920er-Jahre hervorgegangen teilte der junge Conze die Abneigung vieler seiner Zeitgenossen gegen die industrielle Massenkultur der westlichen Welt und ihres scheinbar von egoistischen Parteiinteressen bestimmten parlamentarischen Systems.

Der Berliner Historiker Jan Eike Dunkhase zeichnet in seiner facettenreichen Dissertation über diese prägende Persönlichkeit der bundesdeutschen Historie das Bild einer bemerkenswerten wissenschaftlichen Karriere, die noch im Dritten Reich einsetzte und, mit internationaler Anerkennung überhäuft, fast bis zum Ende der alten Bundesrepublik währte. Keine große Kontroverse der deutschen Nachkriegshistorie wurde ausgetragen, ohne dass sich der ehemalige Artillerieoffizier in der 291. Infanteriedivision nicht wirksam zu Wort meldete. Nicht ohne Empathie und auf der Grundlage einer hervorragenden Quellenkenntnis beschreibt Dunkhase, wie es dem lebenslang unter den Folgen einer schweren Kriegsverwundung leidenden Conze gelang, in der sich rasch formierenden akademischen Welt der Nachkriegszeit Fuß zu fassen.

Dabei kam dem früheren Volkstumshistoriker vor allem zu Gute, dass sich die deutsche Geschichtswissenschaft nach dem Untergang des Bismarckreiches und dem offenkundigen Scheitern nationaler Machtstaatspolitik nunmehr von der klassischen Politik- und Diplomatiegeschichte zu verabschieden begann. Conze profitierte davon, dass plötzlich gesellschafts- und wirtschaftsgeschichtliche Fragestellungen in den Vordergrund traten. Gerade hierin wies er jedoch eine beachtliche Expertise auf und war letztlich nur genötigt, in einigen entscheidenden Punkten die bisherige Nomenklatur zu ändern. Aus „Gemeinschaft“ und „Volk“ wurden jetzt „Gesellschaft“ und „Staatsbürgernation“, aus dem Bauer der Arbeiter.

Conzes ehemalige eskapistische Wertschätzung agrarischer Strukturen im Osten wich einem neuen Interesse für die Erscheinungsformen der zuvor noch innerlich abgelehnten industriellen Welt. Es war das unbestreitbare Verdienst des späteren Herausgebers der „Geschichtlichen Grundbegriffe“, die Geschichte der Arbeiterbewegung der traditionellen Vorherrschaft linker klassenkämpferischer Strömungen zu entwinden und sie auch unter seinen sonst eher konservativen Zunftgenossen hoffähig zu machen. Mit Conzes Eintritt in die Nachkriegswelt verlässt Dunkhase das klassische biografische Schema und beschreibt, methodologisch durchaus vertretbar, die nun folgende Karriere seines Protagonisten systematisch aus sechs verschiedenen Perspektiven. Dabei kann das Kapitel über Conzes „Westdeutsches Gelehrtendasein“ noch am ehesten als Fortsetzung des biografischen Anliegens angesehen werden. In seinem Kapitel über den Aufstieg der Sozialgeschichte gelingt es dem Verfasser, ein bemerkenswertes Stück deutscher Wissenschaftsgeschichte vorzulegen, während sich die folgenden beiden Abschnitte mit Conze als „Zoon politikon“ im Spannungsfeld des Ost-West-Gegensatzes befassen.

Entscheidend für seine Gesamtbewertung der Persönlichkeit Conzes sind aber die letzten beiden Abschnitte, in denen Dunkhase unmissverständlich aufzeigt, wie sehr die Prägungen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis zu dessen Lebensende nachwirkten. Trotz seiner unmissverständlichen Verurteilung des Nationalsozialismus gelang es Conze nie, sich von der exkulpierenden Sicht vieler seiner Zeitgenossen zu distanzieren, in der Hitler der charismatische Verführer eines nach innerer Ordnung, politischer Stärke und internationaler Wertschätzung strebenden Volkes war. Von der Opferrolle der Deutschen mochte der selbst mit seiner Familie aus dem Osten vertriebene Conze nie den Blick wenden. An diesem Punkt endete auch, so Dunkhase, der innere Lernprozess seines Protagonisten, dessen Betonung struktureller Zwänge für geschichtliches Handeln insgesamt das Auffinden individueller Verantwortung in den Hintergrund treten ließ. Für die deutschen Katastrophen der Jahre 1933 und 1945 hatte er immer ein waches Gespür, die Katastrophe des jüdischen Volkes hingegen blieb ihm hingegen immer eine „Leerstelle“. Sein Biograf schreibt dazu unmissverständlich:

„Letztlich ging es Werner Conze in seinem Nachkriegsoeuvre nie um den Zivilisationsbruch der Judenvernichtung, vielmehr um den Kontinuitätsbruch der deutschen Nationalgeschichte, den er drei Jahre vor seinem Tod noch einmal ausgiebig heraufbeschwor. Sein historiographisches Kreisen um die ,deutsche Katastrophe‘ machte ihn weitestgehend blind für die Katastrophe der Juden, ja setzte deren Marginalisierung geradezu voraus.“

Spätestens an diesem Punkt endet alle Empathie des Verfassers mit seinem Protagonisten, dem er abschließend in der Gestalt Fritz Fischers das Gegenbeispiel eines radikal zum Kontinuitätsbruch entschlossenen Historikers entgegenhält.

Dunkhase ist mit seiner Lebensbeschreibung des Historikers Werner Conze nicht nur eine vorzügliche biografische Studie gelungen. Sie enthält auch ein bemerkenswertes Stück Wissenssoziologie der alten Bundesrepublik Deutschland, deren geistige und emotionale Leerstellen gerade da immer wieder aufzusuchen und sichtbar zu halten seien, wo, so Dunkhase, die Bonner Republik aus dem Blickwinkel des 21. Jahrhunderts in allzu hellem Licht zu erstrahlen beginne.

Titelbild

Jan Eike Dunkhase: Werner Conze. Ein deutscher Historiker im 20. Jahrhundert.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2010.
378 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783525370124

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