Germanen in China 2032

Jörg-Uwe Albigs neuer Roman „Berlin Palace“ schwankt zwischen pittoresken Vignetten und globaler Zukunftsvision

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Journalist und Romancier Jörg-Uwe Albig ist ein unvergleichlicher Erfinder von Sozialutopien im Modus der verkehrten Welt. Sein voriger Roman, ‚Land voller Liebe‘, zeigte auf subtil arrangierte Weise desorientierte westdeutsche Manager, die auf Auslandsaufenthalten von der deutschen Wiedervereinigung überrascht wurden und nun Schwierigkeiten haben, sich mit der Auflösung der vertrauten, dekadenten Welt abzufinden. Der Clou in diesem sprachlich und atmosphärisch schwelgerischen Roman lag darin, dass in ‚Land voller Liebe‘ der unproduktive Westen unterging. Wegen ihrer unhaltbaren Verhältnisse musste sich die BRD an die DDR anschließen. Im Jahre 2006, als Albigs ironischer Abgesang auf die BRD der 1980er-Jahre erschien, war dieses Szenario einer Alternativweltgeschichte oder Parahistorie allemal noch fantastischer als nach den unrühmlichen Ereignissen der seit 2008 wütenden Finanz- und Wirtschaftskrisen.

In seinem neuen Roman entwirft Albig erneut eine Sozialutopie. Doch spielt sein Szenario einer spiegelverkehrten Welt diesmal nicht in einer virtuellen, anders verlaufenen Vergangenheit, sondern in der Zukunft des Jahres 2032, von der niemand wissen kann, was dann real und was nur virtuell in der Fantasie der geopolitische Fall sein wird. „Berlin Palace“ spielt keineswegs in der deutschen Hauptstadt. Vielmehr berichtet sein chinesischer Erzähler von den wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen der Globalisierung, die 24 Jahre nach den Olympischen Spielen in Peking die Machtverhältnisse der Welt gründlich verändert haben:

„Die Ausländer, die an dieser Kreuzung warteten, sahen anders aus als die Ausländer meiner Kindheit, die zur Zeit des zweiten großen Sprungs ins Land gekommen waren, zur Zeit des Jahrtausendwende, zur Zeit unserer Wiedergeburt. Es waren ja Tigerzeiten gewesen, damals, Schwellenzeiten, und wie Tiger waren sie über unsere Schwelle gesetzt, gefährlich lächelnd. Sie hatten im Kempinski gewohnt, im Lido und im Grand Hotel, hatten Chauffeure gehabt und Maßanzüge.“

So lautet der Rückblick des Erzählers in unsere Gegenwart, in der China ein Land mit faszinierender (für manchen wohl auch beängstigender) Entwicklungsdynamik ist. Albigs Erzähler berichtet, wie es weitergegangen ist: „Mit der Zeit hatten immer weniger Ausländer unsere Stadt bevölkert, und schließlich waren sie ganz weggeblieben. Sie hatten nun selber ein Schwellenland daheim, wo sie Treppensteigen üben konnten; doch die Schwellen führten abwärts, nicht aufwärts. Und als sie eines Tages zurückkamen in sickernden, verzweigten Rinnsalen, sahen sie anders aus, kleiner, seltsam mutiert. Ihre Stimmen waren leiser geworden, ihre Augen unsteter.“

Eine Erklärung für diesen Aufstieg des Ostens und Abstieg des Westens hat die chinesische Erzählstimme auch zu bieten. Während die Deutschen zweimal Olympia ausgerichtet hätten, ohne zivilisatorischen Fortschritt daraus zu ziehen, wurde China durch die Spiele gesittet und hell: „Wir sagen bitte und danke, essen Stieglitznester ohne Glutamat und Rinder, die kein Treibhausgas mehr ausstoßen. Wir fahren Autos ohne Kohlendioxid und rauchen Zigaretten ohne Teer. Wir warten in der Schlange, bis die U-Bahn abgefahren ist. Wir lecken auf, was wir ausgespuckt haben. Einmal Olympia hat gereicht, uns zu Menschen zu machen.“

Diese zivilisatorische Überlegenheit führte dazu, dass nun europäische Arbeitsmigranten die schmutzigen Jobs in China erledigen müssen. Gleich die fulminante Auftaktszene offenbart dies überaus bildmächtig, wenn ein Gastarbeiter die Windschutzscheibe der chinesischen Limousine mit seiner Zunge und größter serviler Hingabe reinigt. Den Standort- und Technologie-Wettbewerb hat China in dieser Zukunftswelt gegen einen deklassierten Westen klar gewonnen: „Ich dachte nur an unsere Autos, die deutscher waren als die deutschen aus der Zeit, als die Deutschen noch Autos bauten. Ich dachte an unsere Computer, die amerikanischer waren als die amerikanischen aus der Zeit, als die Amerikaner noch Computer bauten.“

Aus dieser verkehrten Zukunftsweltordnung schlägt Albigs Roman nun satirisch interkulturelle Funken, wenn er seinen durchaus gebildeten chinesischen Erzähler exotischen Bruchstücken einer archaischen deutschen Welt begegnen lässt, die einer überfeinerten chinesischen Luxuswelt entgegengestellt werden. Erzähler ist der Filmregisseur Ai Li, der den Auftrag hat, einen Werbespot für das neue Parfüm „Wald“ zu drehen. Inspiriert durch ein altes Buch aus der Bibliothek seines Großvaters, dem Märchen von Hänsel und Gretel, entwirft der Regisseur ein Parfüm-Image, das den Wald mit Bildern und Mythologemen der Germanen illustriert. „Ich versuchte, mir meine Schulzeit ins Gedächtnis zu rufen. Ich glaubte, mich an Geschichten von wilden Männern zu erinnern, die der Kultur trotzten, Laub um die Lenden. Sie jagten nachts Frauen und Hirsche, Kiefernbäume in den Fäusten, banden Mensch wie Tier quer über ihre Sättel. Ich hatte von Welteschen gehört, von Zauberwesen, dreimal verbrannt und dreimal neugeboren, von Götterspeeren und der Schlacht im Tiaodubu-Wald.“

Der Plot dieser Social-Sci-Fi-Phantasie wird – streckenweise etwas schematisch – vorangetrieben durch die ebenfalls vom spielerischen Umgang mit Liebesklischees geprägte Geschichte des Begehrens und der Suche nach der halbweltlich schillernden, jungen Frau Olympia. Der Erzähler liebt dieses mysteriöse Wesen und möchte sie als Hauptdarstellerin für seinen Wald-Spot engagieren. Auf geheimnisvolle Weise verkehrt Olympia auch in der Unterwelt der heruntergekommenen Migrantenviertel, der ‚Schwalbenstadt‘. Für den Leser fesselnder als diese melancholische Liebe des Erzählers zur sich immer wieder entziehenden Angebeteten sind Albigs zahllose prächtige Einfälle zum Umgang der Chinesen mit deutscher Folklore.

„Berlin Palace“ ist der Name einer deutschen Musikkneipe in einem Abbruchhochhaus. Kontrastiv zu den manieristisch detailreichen Deskriptionen dekadent asiatischer Essvergnügen – Albig hat ein Faible für Beschreibungen des Essens und Trinkens – und neureicher Millionärs-Events mit Fallschirmspringen, U-Boot-Parties und Panzer-Ralleys wirken die Europäer als Verkörperungen urtümlich barbarischer Bräuche, die im Folklore-Ghetto der neuen Weltherren als bunte Abwechslung goutiert werden. Witzige Parodien und Perspektivenverdrehungen entstehen etwa, wenn der Erzähler beim Anblick eines Fotos vom Eiffelturm schaudernd denkt, an solchen Dingern haben sie ihre Hexen verbrannt. Die passende Musik für den Wald-Werbespot findet sich in einem ‚germanischen Raunlied des 19. Jahrhunderts‘, das offensichtlich aus einer Wagneroper stammt. Der Erzähler glaubt zu wissen, diese Wagnermusik erklänge als Volksbrauchtum weiterhin in Deutschland zu besonderen Anlässen wie Schlachtfesten, Dorfprügeleien und Ritualmorden. Gelegentlich werden auch andere Europäer erwähnt, etwa die Spanier, die man als Stierkämpfer in ihren ‚Ritualhosen‘ in Themenrestaurants finden kann. Denn in China blühen allerlei folkloristische Weltmusik- und Weltküche-Trends: „Die jungen Leute haben genug von Zulu-Zabaione, Kamasutra Burger, Andenmeerschwein mit Qzuinoa-Polenta.“ Seit neuestem trinken sie am liebsten Met und tanzen Tänze aus dem Schwarzen Wald.

Wiewohl sich der Erzähler für einen weltläufigen Menschen hält, der nicht gleich beim Anblick eines Europäers lacht wie ein chinesischer Bauer, staunt er im Bongo Bongo Club, wenn die blondbehaarten Germanen in Lederhosen Lieder über die Liebe und den Enzian anstimmen. Amüsant sind die radebrechenden Rückübersetzungen deutschen Liedgutes in das vermeintliche Chinesisch des Erzählers. Der Leser begegnet hier verfremdeten Klassikern des Schlagers wie etwa: „Pauke geht bis morgen früh“ oder „In Kornfeld Bett ist schlafen schöner wie zu Haus“.

Doch ist diese urig-albern-dumpfe Folklorewelt nur die Multi-Kulti-Genussvariante klarer Verhältnisse von Herrschaft und Knechtschaft: „Ich kannte das Schweigen der Migranten, das Schweigen der Rosenverkäufer, der Müllmänner, der Handlanger in den Transistorfabriken, der australischen Boat People, der Fussballasylanten aus Italien. Sie schwiegen beim Befehlsempfang, beim Warten auf Trinkgeld, beim Entleeren der Eimer.“

Die globale Weltordnung der Zukunft erscheint hier als verkehrte Welt. Sie hält uns einen satirisch-sarkastischen Spiegel heutiger Verhältnisse vor. Der Erzähler begegnet in dieser dystopischen Zukunftskultur beispielsweise einem deutschstämmigen Musiker, Siggi, der sich eigentlich zum Gangster-Rapper berufen fühlte, doch nunmehr die chinesische Nachfrage nach alter, ursprünglicher deutscher Musik, mithin nach Schlagerschund, bedienen muss.

Bis in die Körperpraktiken spielt diese Erzählung die invertierten postkolonialen Verhältnisse durch: Eine europäische Frau will gern so sein wie die zivilisierte Welt und versucht, ihre Weiße durch Bräunungscremes loszuwerden – doch erreicht sie nur die traurige Farbe fauliger Äpfel. Wissenschaftlich ist die weiße Haut längst durchschaut als Evolutionsfehler, als eine 6.000 Jahre alte Genmutation. Ihre großen Nasen und Augen, ihre helle Haut und ihre starken Körpergerüche machen die europäischen Migranten in der globalen Vormacht China zu spürbaren Außenseitern und Exoten. Heißt die junge Chinesin inspiriert durch sportlich-mediale Großereignisse Olympia, so trägt der Wirt des „Berlin Palace“ den zukünftig typisch deutschen Namen Jogi. Das Schlussbild dieses glänzend fantasierten Zukunftsromans zeigt Jogi, der nach dem Abriss des „Berlin Palace“ die sich auflösende deutsche Kultur aufgegeben hat und seine Arbeits- und Darstellungskraft nun in einer Western-Show im High-Noon-Lokal zu Markte trägt.

Wie die Erzählung von Ai Lis Liebe zu Olympia endet, was die Beiden in märchenhaften Waldwanderungen schließlich so alles erleben, das wollen wir hier nicht verraten. Loben wollen wir hingegen Jörg-Uwe Albig als einen überaus sprach- und bildmächtigen utopischen Erzähler. Das manchmal irritierende Verhältnis von witzigen Einfällen und Albigs blumig sich rankender Beschreibungskunst lässt die lustige Lektüre manchmal stocken. Doch darf man sich auf seine nächsten starken Einfälle freuen. Seinen Hang zum seltenen Wort und zur manchmal gespreizten Prosa kann man als exotisierenden und doch welthaltigen Beitrag zur deutschsprachigen Erzählkunst genießen.

Titelbild

Jörg-Uwe Albig: Berlin Palace. Roman.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2010.
222 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783608501063

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