Weder Eutopie, noch Dystopie

Zu Judith Leiß’ Buch über die Heterotopie als postmodernistisches Subgenre der Utopie

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Utopien sind bekanntlich bereits seit längerer Zeit aus der Mode gekommen. Dies gilt zumindest, sofern sie als Eutopien auftreten. Erstaunen kann das kaum, lassen sich doch einige gute Gründe gegen sie anführen. Und das nicht erst seit dem Ende des sogenannten realexistierenden Sozialismus, dessen TheoretikerInnen schon zuvor selbst zu denjenigen zählten, die Utopien gering zu schätzen pflegten, da sie glaubten das eschatologische Heraufziehen des Kommunismus wissenschaftlich aus vermeintlich notwendigen Gesetzmäßigkeiten der Geschichte beweisen zu können. Dass die Beweise trügerisch waren und die Theorie des Endes der Geschichte im gesellschaftlichen Idealzustand in der Praxis Regime wie Stalins Sowjetunion, Maos China oder Pol Pots Kambodscha zwar nicht unbedingt mit zwangsläufiger Notwendigkeit, aber doch einigermaßen folgerichtig hervorbrachte, ist inzwischen allgemein bekannt.

Um einiges höher im Kurs als die Eutopien stehen nicht nur darum seit geraumer Zeit die Dystopien, jene Warnutopien, die nicht eine paradiesische Gesellschaft erträumen, sondern die Übel der gegenwärtigen extrapolierend deren Höllenfahrt in Szene setzen.

Doch weder Eu- oder Dystopien, sondern Heterotopien sind seit einiger Zeit zwar nicht in aller, aber doch in zahlreicher Munde. Zumindest in kultur- und gesellschaftswissenschaftlichen Kreisen. Ihre Eroberung des einschlägigen wissenschaftlichen Diskurses wurde noch von Michel Foucault auf den Weg gebracht, der den Neologismus prägte. Das ist einige Jahrzehnte her, und inzwischen wird der Terminus wie jeder neue Begriff, dem Erfolg beschieden ist, nicht nur gerne aufgegriffen, sondern verschiedentlich auch mit neuen Inhalten versehen.

So etwa von Judith Leiß, die sich in ihrem Buch „Inszenierungen des Widerstreits“ mit der Utopie als literarischer Gattung auseinandersetzt und dabei die Heterotopie als deren „postmodernistisches Subgenre“ auffasst. Ihr vorrangiges Erkenntnisinteresse zielt auf die Beantwortung der Frage, ob es eine „Spielart der Utopie“ gibt, „an der sich die Interaktion zwischen utopischer Tradition und postmodernistischem Denken als signifikante Abweichung von den Konventionen der literarischen Utopie nachweisen ließe, ohne dass das literarische System ‚Utopie‘ durch diese Abweichungen von der historischen Norm als Ganzes negiert würde“. Ihre „Hauptthese“ lautet nun, dass es „sinnvoll“ sei, „eine postmodernistische Spielart der Utopie zu veranschlagen, die sich so signifikant von anderen utopischen Subformen wie etwa der Dystopie oder der Kritischen Utopie unterscheidet, dass sie als eigenständiges Subgenre der Utopie – im Folgenden ‚Heterotopie‘ genannt – konzipiert werden sollte“.

Zur Heterotopie, das sei gleich vorweggenommen, hat die Autorin durchaus einiges Kluge zu sagen. Hingegen fallen ihre Aussagen zum wechselseitigen Verhältnis von Eutopie und Dystopie weniger überzeugend aus, schließt sie sich doch der Auffassung von Krishan Kumar an, dem zufolge beide „mirror images of each other“ seien, womit, wie die Autorin ergänzt, „jede negative Utopie […] auch ein positives Gegenbild impliziert“. Dass dies keineswegs zutreffend ist, liegt auf der Hand. Denn alleine die Aussage, dass eine bestimmte Entwicklung nicht eintreten soll, impliziert keineswegs, dass eine bestimmte andere, gar gegenteilige wünschenswert sei. Oder allgemeiner ausgedrückt: Der normative Aussage „x soll nicht sein“ korrespondiert keine konkrete positive, also weder „y soll sein“, noch „z soll sein“, noch sonst irgendeine.

Nun aber zu Leiß’ Heterotopie-Konzept. Unter Heterotopie versteht die Autorin nicht etwa jede in der Postmoderne entstandene Utopie, sondern ausschließlich postmodernistische Utopien. Dazu unterscheidet sie zunächst einmal ganz dezidiert zwischen postmodern und eben postmodernistisch. Einen Ismus ausgerechnet auf die Postmoderne anzuwenden, die sich bekanntlich gegen alle Ismen stark machte, scheint zwar prima facie abwegig. Doch begründet Leiß ihre Unterscheidung und den Begriff des Postmodernismus nachvollziehbar. Und zwar operationalisiert sie die an sich „schillernden Begriffe“ Postmoderne und Postmodernismus dahingehend, dass sie erstere als „Epoche im Sinne einer historisch und geographisch verortbaren, kulturellen und sozialen Verfasstheit“ bestimmt, deren „Distinktionsmerkmal“ in der „Radikalisierung der Moderne im Sinne einer Zunahme von Pluralität in quantitativer wie in qualitativer Hinsicht“ besteht, die als solche keineswegs eine „Verabschiedung der Moderne“ sei. Postmodernismus ist Leiß’ Verständnis gemäß hingegen keine Epoche, sondern eine „radikalpluralistische Geisteshaltung“, die sich von einer modernistischen vor allem dadurch unterscheidet, dass sie „Pluralität nicht als beklagenswerte, wenngleich nicht behebbare Abwesenheit von Einheit erscheinen lässt, sondern als Gewinn“ betrachtet.

Damit sind die „Bedingung für die Klassifikation“ eines literarischen Textes als Heterotopie abgesteckt. Zunächst einmal hält die Autorin fest, dass Werke des „literarischen Postmodernismus“ in zweifacher Hinsicht als „Literatur des Widerstreits“ gefasst werden können. Zum einen, da Widerstreit ihr „zentrales Gestaltungsprinzip“ und zumindest „idealiter“ auf allen ihren „Textebenen“ auszumachen sei. Zum zweiten könne die „Konfrontation“ mit „Konflikten zwischen inkommensurablen Positionen“ bei den Rezipierenden ganz allgemein zu einer höheren „Sensibilität für Widerstreitsituationen“ führen und somit dazu beitragen, deren „Bereitschaft fördern, den Widerstreit auszuhalten, um Unrecht zu vermeiden.“

Übertrage man diese Merkmale auf utopische Literatur, deren zentrales Prinzip in der Darstellung zweier Welten (der literarisierten ,realen’ Welt („W1“) und der literarischen ,idealen’ Welt („W2“) bestehe, trete der „Grundriss einer Konstruktion der Heterotopie als postmodernistisches Subgenre der Utopie“ hervor: Als ‚Heterotopie’ wäre demnach ein utopischer Roman zu bezeichnen, der die Rezipienten durch die spezifische Gestaltung der fiktionalen Welten W1 und W2 mit Widerstreitsituationen konfrontiert und ihnen somit Gelegenheit gibt, sich der Irreduzibilität radikaler Pluralität zu stellen und sich im Aushalten des Widerstreits zu üben.“

Die Frage, welche die Untersuchung nach den Begriffsklärungen leitet, zielt darauf, „ob die literarische Rezeption des Postmodernismus neue Formen utopischen Schreibens hervorbring[t], die die These von der strukturell notwendigen Verabsolutierung von Werten in utopischen Romanen zu widerlegen vermögen“.

Hätte die Autorin für ihre Untersuchung literarische Utopien von Feministinnen herangezogen, hätte sie allerdings sehr schnell bemerkt, dass diese Frage schon seit einiger Zeit ohne weiteres bejaht werden kann. Denn wie Barbara Holland-Cunz bereits 1988 in ihrer Untersuchung „Utopien der Neuen Frauenbewegung“ zeigt, handelt es sich geradezu um ein Charakteristikum feministischer Utopien, keine abgeschlossenen idealen Staaten oder auch nur Gesellschaften zu entwerfen. Vielmehr zeichnen sich diese nicht nur dadurch aus, dass ihre Existenz von außen bedroht ist, sondern mehr noch dadurch, dass sie unvollendete und entwicklungsfähige Gesellschaften entwerfen. Doch Werke von Frauen finden sich nicht im Untersuchungskorpus der Autorin, geschweigen denn Werke von Feministinnen.

Daher muss konstatiert werden, dass Leiß’ Vorhaben, „eine möglichst große Bandbreite“ von Quellentexten heranzuziehen, zumindest in dieser einen Hinsicht kläglich gescheitert ist. Sollte sie allerdings der Auffassung sein, es gäbe keine von Frauen verfassten Heterotopien, so hätte sie diesen augenfälligen Befund doch zumindest erwähnen und belegen sollen.

Ungeachtet dieses Geschlechterbias plausibilisiert Leiß nicht nur, „dass zwischen postmodernistischem und utopischem Denken insofern eine Affinität besteht“, als ersteres „Ausdruck des Engagements für eine nicht realisierte, aber wünschenswerte gesellschaftliche Verfasstheit“ und „selbst utopisch“ ist, sondern auch, „dass eine postmodernistische Haltung individuelle Positionierungen keineswegs verhindert und auch deren Verbindlichkeit nicht mindert“. Mehr noch: Folgt man Leiß, so verlangt eine postmodernistische Haltung geradezu nach einer solchen Positionierung.

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Judith Leiß: Inszenierungen des Widerstreits. die Heterotopie als postmodernistisches Subgenre der Utopie.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2010.
297 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783895287688

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