Die Brüchigkeit der Fassaden

Murathan Mungan entwirft in zwei ganz unterschiedlichen Büchern ein vielfältiges Panorama des nahöstlichen Frauenlebens

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kopftuch, Hijab, Niqab, Burka oder Tschador – all das sind unterschiedliche Synonyme für eines: den fundamentalistischen Islam und die Drohung, die er auf die säkulare westliche Gesellschaft ausübt. Bei dieser Drohung geht vergessen, dass sich unter dem „Schleier“ viele Bedeutungen verbergen, die, weil sie verschleiert sind, meist auch im Diskurs unsichtbar bleiben. Symbol und Inhalt gelangen zur Deckung. Eine glänzende, überraschende Wendung für diesen Zusammenfall findet der türkische Autor Murathan Mungan in seinem erstmals 2004 publizierten, auf Deutsch vorliegenden Roman „Tschador“.

Der Titel weckt augenblicklich Vorstellungen, die aus Medienbildern resultieren: Vom französischen Verhüllungsgesetz bis zu irakischen Selbstmordattentäterinnen, die ihre Bombe unter der Burka an den Check Points vorbeischleusen. Von all dem handelt Mungans Roman aber nur nebenbei auf gänzlich unspektakuläre Weise.

Ein Mann namens Akhbar lässt sich über eine vor kurzem noch undurchlässige Grenze in ein vom Krieg traumatisiertes Land fahren, das seine Heimat ist. Zwar ungenannt, gleicht sie dem Irak. Akhbar ist auf der Suche nach seiner Familie. Als er vor dem Elternhaus steht, öffnet ihm eine fremde Person die Tür, „in ihre Burka zurückgezogen wie in eine Höhle“ könnte es seine Mutter sein. Doch längst lebt hier eine neue Familie. Der verlorene Sohn steht vor dem falschen Haus, in einer öden Gasse, in der niemand nichts Genaues wissen will. Die Menschen bleiben stumm. Nur ein Ladeninhaber gibt verstohlen Auskunft über einen früheren Klassenkameraden, der seit dem Krieg vermisst ist. Seine Familie verharre „leidend in einem Schwebezustand zwischen Stolz und Scham“, weil sie nicht wisse, ob der Sohn als Verräter desertierte oder als Märtyrer fiel.

So ist das neue Leben in seiner alten Heimat. Aus dem Hintergrund lässt sich eine ordnende Hand spüren, die Akhbar sogleich ins Kreuzverhör nimmt. Auf wenigen Seiten fängt Murathan Mungan eine Trostlosigkeit ein, über der eine flirrende Spannung liegt. Der Krieg scheint vorüber, doch er hat die Hierarchien umgeschichtet, Nachbarschaften zersprengt und die Menschen übers Land hin verstreut. Als Rückkehrer aus dem Exil kann Akhbar kein Vertrauen von niemandem erwarten. Wo warst du während des Krieges?, fragen ihn die Menschen stillschweigend. Sie bleiben ihm gegenüber stumm: „erinnerten sich an nichts, kümmerten sich um nichts“.

Aus Bruchstücken und Andeutungen entnimmt er einzig, dass sein Bruder verstarb, und dass Mutter und Schwester in den Süden gezogen seien, oder in den Norden. Wie aber sollte er sie jemals finden – unter einem Tschador verborgen, der ihn nicht einmal ihre Augen sehen lässt. Als Akhbar dennoch auf der Straße die Schwester an ihrem Gang zu erkennen glaubt, bleibt ihm nichts anderes als die Hoffnung, dass sie oder ihr Mann ihn beachten würden. Anreden durfte er sie keinesfalls.

In seinen Augen zerfällt die frühere Heimatstadt in eine beklemmende Einöde, in der Konformität, Misstrauen und kollektive Trauer herrschen. „Die festesten Grenzen werden mit Toten errichtet“, ahnt er, darüber steigt niemand ungestraft hinweg. Die Männer verschließen sich hinter Bärten und steinernen Mienen, ihre Frauen halten sie unsichtbar unter einem „Stoffzelt mit Sichtgitter“ versteckt. Akhbar „begriff nun, dass das wahre Exil erst begann, wenn man glaubte, wieder in seiner Heimat zu sein“. Könnte er nur aus der eigenen Haut fahren, aus seinem Körper steigen. Unter den harten, argwöhnischen Blicken fühlt er sich darin gefangen wie unter einem Tschador.

Tschador oder Burka senden politische Signale aus, sie sind ein Problem des Patriarchats und nicht ein Gebot des Korans, wie die marokkanische Soziologin Fatima Mernissi vor langem analysiert hat. Vor der Rückreise in die Heimat hat eine Frau Akhbar einmal erklärt, dass die Verhüllung erst im Leichentuch ihren Endpunkt finde, wenn sie zum moralischen Gebot erhoben werde. Er empfindet jetzt diese Totenstarre am eigenen Körper – er, der gelernt hat, die Frauen anzusehen und ihr Lachen zu lieben. Beklommen und irritiert wird er alllmählich noch etwas anderes gewahr, er erkennt eine perverse Dialektik: Die Burka schützt die Frauen vor den dreisten Blicken jener Rechtschaffenen, die ihnen die Burka aufzwingen.

Murathan Mungan macht aus dieser Ambivalenz kein großes Aufheben. In seiner leisen, genauen, behutsam zwischen Symbolik und Realismus oszillierenden Reisegeschichte schleicht sich das Verhängnis als verführerischer Gedanke heran. Die Ambivalenz von Schutz und Wegsperren gipfelt in Akhbars Einsicht, dass die Burka für ihn selbst hier in der fremden Heimat eine Lebensmöglichkeit darstellen könnte. In den 1970er-Jahren sang Georg Danzer: „Nur in Freiheit kann die Freiheit Freiheit sein“. Doch gilt dieses idealistische Konzept in einer vom Krieg zerstörten Gesellschaft, in der es zuallererst ums Überleben geht? Kann es nicht auch in Unfreiheit ein Stück Freiheit für die Freiheit geben?

Akhbar wird die Mutter nicht mehr finden – oder diese ihn, den Sohn, nicht erkennen. Murathan Mungans Rückkehrer schlägt eine überraschende Volte. „Sich zu verstecken bedeutete Sicherheit“, mehr ist für ihn nicht zu erhoffen. Geborgen unter einer Burka, in der „Höhle einer verschwundenen Seele“, kehrt dieser moderne Hiob an die Grenze zurück, wo er ein Auto sieht, ähnlich wie das, mit dem er selbst ins Land gekommen ist. Der Blick des Beifahrers fährt ihm brennend durch seine Burka. Brillant und eindrücklich schildert Mungan diese grausige Dialektik.

Einen anderen Ansatz verraten die Geschichten im Buch „Städte aus Frauen“. Mungan erzählt darin von alleinstehenden Frauen, die sich demaskiert haben, oder es versuchen. Sind die einen noch unverheiratet, weil es mit der Verlobung nicht klappt oder ein Studium dazwischen kommt, haben andere ihre Eheerfahrungen bereits hinter sich und sind wieder allein, geschieden oder verwitwet. Ihnen geht es wie Nurhayat in der ersten Geschichte: Sie stehen im Leben „mit einem schmerzlichen Gefühl der Freiheit“. Dieses Gefühl resultiert aus zwei ambivalenten Erfahrungen: einerseits der eigenen Lebenstüchtigkeit, die sie beruflich erfolgreich sein lässt, andererseits der Einsamkeit fernab der eingespielten familiären Rollen. Letzteres ist der Preis der Unabhängigkeit. Mungan erzählt von diesen Gefühlen in unterschiedlichen Konstellationen, und in unterschiedlichen Regionen der Türkei.

Sevgi steht beispielhaft für eine starke Frau, die sich von allen Konventionen gelöst hat und eine allseits geachtete Gerichtsmedizinerin geworden ist („Der Trabzon-Armreif“). Während sie den Tod einer jungen Selbstmörderin feststellt, wird sie gewahr, dass ihr ein ähnliches Schicksal hätte blühen können. Der Grat zwischen Wunsch und Tradition ist schmal und manchmal kaum erkennbar. „Sie fasste sich an den Hals, als spürte sie dort einen Strick, und fuhr an einem unsichtbaren Mal entlang.“

Der emanzipierte Kampf um Anerkennung und Freiheit kostet Kraft und benötigt auch Glück. Es kann schnell geschehen, dass sich das Blatt wendet und die Kehrseite spürbar wird: „So viele Lektionen hatte Emine im Lauf der Zeit gelernt – und stand nun doch mit leeren Händen da.“ Was aber wäre besser? Sich aufzugeben in „einem Konzept, nämlich der Einbettung in eine Ehe, eine Familie und eine ‚Klub‘ genannte Gemeinschaft“, die durch den Ehemann repräsentiert wird? Oder die selbst bestimmte Einsamkeit?

Murathan Mungans Geschichten zeichnen sich durch außergewöhnliche Feinheit und Einfühlsamkeit aus. Seine Heldinnen haben die zweite Wahl getroffen: alleinstehend das eigene Glück zu versuchen. In der Konfrontation zwischen alten Freundinnen wägt er in mehreren Geschichten die beiden Konzepte gegeneinander ab. Meltem in „Sehr geehrte Fahrgäste…“ begegnet unterwegs auf einer Autobahnraststätte zufällig ihrer alten Freundin Serap, die sich mit ihrer Familie und ihrem häuslichen Glück brüstet. Eigentlich möchte Serap aber nur erfahren, warum sich Meltem hat scheiden lassen, diese gibt aber nichts preis – wohl begründet, wie sich erweist. In dem stillen Ringen bleibt keine von ihnen unbeschädigt. Meltem spürt, dass sie zwar ein eigenes Leben hat, doch allein ist, dafür auch frei vom unerfüllten Einerlei einer Hausfrau, das aus Seraps traurigen Augen spricht. Und sie kennt ein Geheimnis, das sie Serap nie mitteilen würde.

Natürlich geht es in solchen Gesprächen auch um die Männer, die zwischen den Frauen stehen – und über ihnen. Sie kommen bei Mungan oft nicht gut weg. Sie wirken verstockt, versteift, verbohrt und auf Vorrechten beharrend, die im Grunde längst passé sein sollten. Doch so einfach ist es nicht. Auch die Männer sind Opfer der weiblichen Emanzipation und gefangen in ambivalenten Erwartungen. Esme beispielsweise freut sich darüber, dass ihr Freund in der Beziehung unterwürfig und pflegeleicht ist, doch draußen im Alltag hätte sie ihn gerne stark und erfolgreich. Das geht schwer zusammen.

Diese vertrackte Konfusion lotet vielleicht am schönsten die Geschichte „Samsun-Zigaretten, Tabakrollen, Tamaron“ aus. Sengül ist vor Jahren mit ihrer furchtlosen Mutter nach Deutschland ausgewandert, während der Vater ohne Mut mit ihrer Schwester Songül in der Türkei zurückblieb. Sengül hat studiert, Songül hat geheiratet und bewohnt nun ein stattliches Haus inmitten der Tabakfelder von Samsun. Sengüls Besuch bei ihr macht die inzwischen angewachsene kulturelle Differenz auf eindringliche Weise sichtbar. Durch ihre Heirat ist Songül in ein verworrenes Netz von familiären Beziehungen getappt, dem sie sich nur unterwerfen kann. Die verstorbene Mutter ihres Mannes Hüseyn hat die Familie im Stich gelassen – nicht indem sie auswanderte, sondern indem sie täglich am frühen Morgen das Haus verließ, um ihre eigene Familie zu besuchen und erst spätabends wieder heimkehrte. Die Kinder blieben hungernd zurück. Hüseyn und sein Vater fühlen sich auch Jahre nach ihrem Tod noch von ihr verraten, die Schwiegertochter kann die dadurch permanent aufgeladene Stimmung nur mit fröhlicher Demut besänftigen. Sengül weiß darauf keine Antwort. Kämpferisch hat sie für sich ein solches Schicksal abgewendet, doch der Schwester gegenüber bleibt sie hilflos und bestürzt. Mungan formt daraus keinen Plot, er formuliert keine Lösung, sondern lässt die beiden Haltungen unaufgelöst nebeneinander stehen. Es ist wie es ist. Einzig die persönliche Initiative vermag etwas zu verändern.

Dies schildert er eindrücklich, auch wenn die eine oder andere der insgesamt 16 Geschichten etwas sehr konstruiert wirkt. Mungans Türkei zeigt sich dabei als ein betont laizistisches Land, die Religon spielt keine nennenswerte Rolle. Es geht dem Autor vielmehr um kulturelle Traditionen und gesellschaftliche Rollen. Im Gespräch über die Erwartungen ans Leben öffnen sich immer wieder Abgründe, doch wenn nostalgische Kindheitserinnerungen aufkommen, werden diese sogleich eingeebnet. Es gibt Gemeinsamkeiten. Eine zentrale Rolle spielt hierbei die traditionelle „türkische Kunstmusik“ mit ihren poetischen Liedern. Selbst eine Revolutionärin wie Nazan in „Hier ist Radio Ankara, Sie hören nun…“ kann sich ihrem schmeichelnden Sog nicht entziehen: Die Kunst hebt die Trennungen auf. Diese „Lieder einer verschwundenen Welt, verschwundener Menschen und Herzen“ begleitet den Band im Hintergrund und trösten über die Einsamkeit hinweg.

Am Ende schließt sich „Städte aus Frauen“ zu einem Ganzen, indem Mungan mehrere seiner Heldinnen am Busbahnhof von Istanbul einander unbekannterweise begegnen lässt. Sein Buch beschreibt so ein Panorama türkischen Frauenlebens zwischen Tradition und Moderne. Die einst unerbittliche Revolutionärin Nazan oder die heimtückische Füsün auf der Suche nach ihrer Mutter demonstrieren, dass es dem Autor nicht um eine Idealisierung der Frauen geht, sondern um Optionen und Wege im Hinblick auf ihre soziale Freiheit. Dabei schlüpft er selbst – wie Akhbar in „Tschador“ – gewissermaßen unter eine narrative Burka, um diese für Männer verschlossene Welt zu entdecken. Zurückhaltend und feinfühlig entgeht er dem Vorwurf der Anmaßung.

Titelbild

Murathan Mungan: Tschador.
Übersetzt aus dem Türkischen von Gerhard Meier.
Blumenbar Verlag, München 2008.
126 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783936738414

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Murathan Mungan: Städte aus Frauen.
Übersetzt aus dem Türkischen von Gerhard Meier.
Blumenbar Verlag, München 2010.
350 Seiten, 21,90 EUR.
ISBN-13: 9783936738650

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch