Vom Kampf der Kontinente

Mit „Texturen des Globalen“ legt Andy Hahnemann eine vorzügliche Studie über den Zusammenhang von Geopolitik und Populärliteratur zwischen 1918 und 1939 vor

Von Stefan HermesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Hermes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Zuge des spatial turn innerhalb der Literaturwissenschaften ist es zu einer signifikanten Vermehrung von Arbeiten gekommen, die ihre Aufmerksamkeit auf die Verbindungslinien von literarischen und geopolitischen Diskursen richten. Eines der bemerkenswertesten Beispiele für dieses Forschungsinteresse stellt Niels Werbers Bochumer Habilitationsschrift „Die Geopolitik der Literatur“ (2007) dar, der freilich ein recht weites Verständnis des notorisch unscharfen Geopolitik-Begriffs zugrunde liegt, den der schwedische Staatskundler Rudolf Kjellén 1899 eingeführt hatte. So rekurriert Werber in seiner „Vermessung der medialen Weltraumordnung“ unter anderem auf Theoreme von Gilles Deleuze und Giorgio Agamben, um vor diesem Hintergrund seine avancierten Lektüren von Werken des literarischen und philosophischen Höhenkamms seit dem frühen 19. Jahrhundert, aber auch von George Lucas’ Star Wars-Saga zu entfalten.

Demgegenüber widmet sich Andy Hahnemann in seiner an der Berliner Humboldt-Universität entstandenen Dissertation „Texturen des Globalen“ einem enger begrenzten Gegenstandsbereich, wie dies bereits am Untertitel der Studie ablesbar wird. Dort benennt der Autor die wechselseitige Durchdringung von „Geopolitik und populäre[r] Literatur in der Zwischenkriegszeit 1918-1939“ als Untersuchungsobjekt, und somit liegt es auf der Hand, dass er den Ansätzen der vom Münchner Geografen Karl Haushofer begründeten ,geopolitischen Schule’ eine herausragende Bedeutung beimisst: Obwohl Hahnemann auch einschlägige Überlegungen Oswald Spenglers und Carl Schmitts ausführlich behandelt, dient ihm vor allem die Weltsicht Haushofers und seiner Adepten als Referenzpunkt für die Analyse seines aus Romanen und Sachbüchern kompilierten Korpus. Dennoch widersteht Hahnemann der Versuchung, die deutsche Geopolitik als ein mehr oder minder monolithisches Phänomen zu konzeptualisieren; stattdessen weist er auf die enorme Heterogenität all jener Ansätze hin, die einst unter diesem Etikett firmierten oder retrospektiv damit versehen wurden.

Gemeinsam war ihren Vertretern indes, dass sie für ein konsequentes „Denken in großen Zusammenhängen“ plädierten. Als entscheidende Faktoren des Geschichtsverlaufs galten ihnen weniger die bestehenden Nationalstaaten als vielmehr rivalisierende ,Großräume’ oder Kontinente. Darüber hinaus interpretierten sie das internationale politische Geschehen als einen „Verdrängungswettbewerb im Kampf um Raum“, wobei sie radikalmodernistische Gedankenfiguren mit Elementen des völkischen Diskurses kombinierten. Auf der Basis dieses Theoriekonglomerats entstanden mannigfache Szenarien einer künftigen Weltordnung, in der ein von Deutschland dominierter Machtblock den Rang eines globalen Hegemons einnehmen sollte.

Insofern leuchtet es unmittelbar ein, dass Hahnemann die Geopolitik als ein „Werkzeug des Revisionismus“ apostrophiert: In teils betont szientistischer, teils affektiv aufgeladener Diktion wollten ihre Repräsentanten die unbedingte Notwendigkeit der Überwindung jener Restriktionen belegen, denen die deutsche Außenpolitik seit 1918/19 unterworfen war. Neben den Folgewirkungen des Versailler Vertrags gaben insbesondere die medialen und infrastrukturellen Revolutionen der Moderne sowie die zunehmenden internationalen Verflechtungen auf dem Gebiet der Ökonomie den Ausschlag dafür, dass die Geopolitik im Deutschland der Zwischenkriegszeit einen regelrechten Boom erlebte. Einer verunsicherten Gesellschaft, die von massiven Kompensationsbedürfnissen heimgesucht wurde, verhieß sie eine verlässliche Orientierung.

Im Anschluss an seine konzise Rekonstruktion dieses Komplexes demonstriert Hahnemann auf eindrückliche Weise, in welcher Form die faktuale und fiktionale Populärliteratur am Diskurs der Geopolitik partizipierte. Anders als Werber, der durch seine Rekurse auf geopolitische Konzepte avant et après la lettre zu innovativen Lesarten kanonisierter Werke Kleists, Hegels, Melvilles oder Thomas Manns gelangt, nimmt Hahnemann also hauptsächlich Texte in den Blick, um die sich die Forschung kaum je bekümmert hat: Zwar dürften Namen wie der des Reiseschriftstellers Colin Ross oder des Science-Fiction-Pioniers Hans Dominik zumindest unter Literaturhistorikern über einen gewissen Bekanntheitsgrad verfügen, doch gilt dies für den Inhalt ihrer Schriften bereits in erheblich geringerem Maße.

Beinahe vollständig vergessen sind heute die vormaligen Bestseller von Sachbuchautoren wie Anton Zischka oder Romanciers wie Karl Aloys Schenzinger, sodass es nicht das geringste Verdienst Hahnemanns darstellt, die Fachöffentlichkeit auf sie hinzuweisen. Überdies kommt er zu dem in gattungsgeschichtlicher Hinsicht relevanten Befund, dass die Grenze zwischen Fakt und Fiktion in den von ihm herangezogenen Schriften meist äußerst porös ausfällt. So bedienten sich viele der um mitreißende Schilderungen bemühten Sachbuchautoren genuin literarischer Strategien, während die Romanschriftsteller ihre Elaborate gemeinhin als realitätstaugliche Geschichtsdiagnosen oder -prognosen inszenierten und dabei auf Versatzstücke wissenschaftlichen Schreibens zurückgriffen. In Anbetracht dessen vertritt Hahnemann die plausible Auffassung, dass unter Geopolitik eher ein „Ensemble ästhetischer Praktiken zur Weltbild-Erzeugung“ zu verstehen ist als eine „geschlossene Ideologie mit einer Reihe eindeutiger Dogmen und Setzungen“.

Geradezu fesselnd gerät Hahnemanns Arbeit über weite Strecken dadurch, dass sie dem Leser ein verstörendes Panorama gänzlich abstrus anmutender Wirklichkeitsentwürfe vor Augen führt, in deren Zentrum technizistische Vorschläge zur Sicherung der Rohstoff- und Energieversorgung stehen. Darunter finden sich zahlreiche zu befremdlichen Allmachtsphantasien ausufernde Ingenieursmythen, für die das ‚Atlantropa‘-Projekt des Architekten Herman Sörgel ein plastisches Beispiel abgibt. Was Sörgel propagierte, war die Errichtung eines gigantischen Staudamms bei Gibraltar, mit dem das Mittelmeer abgesenkt und eine Landbrücke zwischen Europa und Afrika geschaffen werden sollte. Dadurch wollte er die gemeinschaftliche europäische Okkupation des gesamten ,schwarzen Kontinents‘ und die rasche Urbarmachung der Sahara ermöglicht wissen. Denn ohne dieses ,Neuland‘, so Sörgels unerschütterliche Überzeugung, würde Europa der amerikanisch-asiatischen Bedrohung auf Dauer nicht standhalten können. Anhand seines grotesken Vorhabens, das zum Stoff für mehrere Romane wurde, kann Hahnemann veranschaulichen, dass es den Verfechtern der Geopolitik nicht selten um eine Radikalisierung jener deutschen Kolonialplanungen ging, deren Umsetzung erst kurz zuvor gescheitert war. Sinnfällig wird dies auch dadurch, dass er Hans Grimms revanchistisches Epos vom „Volk ohne Raum“ (1926) in seine Analyse einbezieht, in dem derlei Expansionsgelüste mittels demografischer Spökenkiekereien legitimiert werden.

Indes begnügten sich einige der von Hahnemann behandelten Autoren nicht einmal damit, von der vermeintlich bevorstehenden Weltherrschaft der Deutschen zu schwärmen. So fabulieren speziell die Romane Stanislaus Bialkowskis auch von extraterrestrischen Gefilden, die sobald wie möglich in Besitz zu nehmen seien. Des Weiteren streicht Hahnemann heraus, wie dicht Bialkowskis utopischer „Nazi-Trash“ von rassistischen und sozialdarwinistischen Vorstellungen durchzogen ist.

Allerdings wäre es wohl nicht nur im Hinblick auf diese Pamphlete zu begrüßen gewesen, hätte sich Hahnemann an einer systematischeren Bestimmung der Relationen zwischen geopolitischem und rassentheoretischem Paradigma versucht. Denn obschon er diesen Zusammenhang verschiedentlich berührt, bleibt er insgesamt etwas unterbelichtet, und zwar auch in jenen Passagen, in denen Hahnemann das Verhältnis der Geopolitik zum nationalsozialistischen Regime thematisiert. Dessen ungeachtet gelingt ihm der überzeugende Nachweis, dass die geopolitische Programmatik einerseits eine nicht zu vernachlässigende Nähe zu den im ,Dritten Reich‘ kursierenden ,Lebensraum‘-Konzepten besaß, andererseits aber nicht vorschnell zu deren direkter Vorläuferin erklärt werden sollte: Gewiss war es mit den Wunschträumen etlicher ihrer Anhänger kompatibel, wenn die SA Hans Baumanns berüchtigten Vers „Denn heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt“ schmetterte, doch bestanden auch signifikante Diskrepanzen zwischen den in der „Zeitschrift für Geopolitik“ ventilierten Ideen und jenen Eroberungsplänen, die Hahnemann anhand der Schriften Adolf Hitlers und Alfred Rosenbergs nachvollzieht. Ferner kam es auf persönlicher Ebene immer wieder zu Friktionen zwischen den Protagonisten der Geopolitik und der Funktionselite des ,neuen Staates‘: Die Biografie Haushofers vermag dies ebenso zu illustrieren wie diejenige Bialkowskis, der ungeachtet aller Anbiederungen an die Parteilinie vom Regime keineswegs hofiert wurde.

Alles in allem kann Hahnemann bescheinigt werden, ein zu Unrecht beinahe vergessenes Archiv geradezu mustergültig erschlossen zu haben. Dazu trägt auch der Umstand bei, dass er seine Erkenntnisse in einer ausgesprochen sorgfältigen und eleganten Sprache darbietet. Folglich ist es prinzipiell kein Nachteil, dass „Texturen des Globalen“ eine geringere Reichweite beansprucht als die Arbeit Werbers, die darin knapp, aber doch hinlänglich gewürdigt wird. Vielmehr macht Hahnemanns Untersuchung evident, dass die literaturwissenschaftliche Geopolitik-Forschung nicht allein einer breiten kulturtheoretischen Perspektive bedarf, die unsere Gegenwart dezidiert einschließt, sondern gleichermaßen der umsichtigen Aufarbeitung kaum mehr bekannten Quellenmaterials. Nicht zu bemängeln ist es denn auch, dass Hahnemann die Analyse seines Korpus’ im Gegensatz zu Werber nur punktuell mit einer Kritik jener modischen Globalisierungstheorien verknüpft, die seit den 1990er-Jahren eine ,Überwindung des Raums‘ durch die digitalen Vernetzungen der Postmoderne beschwören. Meist verzichtet Hahnemann sogar vollständig darauf, seine historischen Ausführungen um Kommentare zu heutigen Kontroversen zu ergänzen. Dies ist selbst dann der Fall, wenn sich derartige Kommentare förmlich aufdrängen, etwa im Zusammenhang mit dem in den 1920er- und 1930er-Jahren verbreiteten Topos von der ,gelben Gefahr‘, also der perhorreszierenden Darstellung des politischen wie wirtschaftlichen Aufstiegs Chinas und anderer asiatischer Mächte. Jedoch sind die Aktualitätsbezüge von Hahnemanns Erörterungen auch ohne explizite Markierungen schwerlich zu übersehen, sodass seine diesbezügliche Zurückhaltung keineswegs negativ zu Buche schlägt.

Es sei allerdings nicht verschwiegen, dass sich in einer Hinsicht denn doch die Frage aufdrängt, ob Hahnemann sein Thema womöglich allzu eng abgesteckt hat. Freilich hält seine Arbeit, was sie verspricht, und somit mag es ein wenig wohlfeil anmuten, nun weitergehende Erwartungen an sie heranzutragen. Gleichwohl kann man es bedauern, dass Hahnemann sich fast ausschließlich mit absoluten Randfiguren der Literaturgeschichte befasst und lediglich vereinzelte Bemerkungen zu einigen – überdies faktualen – Publikationen Heinrich Manns, Hermann Hesses, Kurt Tucholskys und Ernst Jüngers einstreut. Denn es steht durchaus zu vermuten, dass sich auch eine Reihe bis heute renommierter Erzähltexte der Zwischenkriegszeit besser verstehen ließe, wenn man sie vor der Folie des geopolitischen Diskurses analysierte.

Zu denken wäre etwa an Alfred Döblins schwer zugängliches Romanmonstrum „Berge Meere und Giganten“ (1924), das immerhin mit zahlreichen Ingredienzien aufwartet, die Hahnemann als typisch für die Geopolitical Fiction bestimmt: So macht Döblin den gesamten Erdball zum Schauplatz eines bizarren Geschehens, das sich in einer apokalyptischen Zukunft abspielt und nicht zuletzt um die Folgen einer totalen Technisierung, Urbanisierung und Bellifizierung des menschlichen Lebens kreist. Aber wie dem auch sei: Dass Hahnemann sich den Werken prominenter Autoren kaum einmal zuwendet, ist ihm nicht zwangsläufig als ein Versäumnis anzukreiden. Mit der gleichen Berechtigung lässt sich resümieren, dass seine lesenswerte Studie zu vielfältigen weiteren Forschungen anregt, für die sie eine unentbehrliche Grundlage bietet.

Titelbild

Andy Hahnemann: Texturen des Globalen. Geopolitik und populäre Literatur in der Zwischenkriegszeit ; 1918 - 1939.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2010.
340 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-13: 9783825357382

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch