Die Erinnerung als Vorleistung für das Vergessen

Laura Alcobas kleiner Roman über eine Kindheit in der Diktatur

Von Almut OetjenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Almut Oetjen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In ihrem Romandebüt, das 2007 im französischen Original als „Manèges. Petite histoire argentine“ bei Gallimard erschienen ist, erinnert sich Laura Alcoba an ihre Zeit als siebenjähriges Mädchen in der argentinischen Diktatur. Adressatin ist Diana E. Teruggi, an die die Erzählerin und die Autorin sich direkt wenden. Im Zielpunkt der Erinnerung soll, so legt der Prolog nahe, ein Anfangspunkt für das Vergessen liegen.

In den frühen 1970er-Jahren arbeiteten Laura Alcobas Eltern als Journalisten in La Plata für die Tageszeitung El Dia. Um 1975 waren sie tätig für die linke Untergrundbewegung „Montoneros“. Die kleine Laura wohnte aus Gründen der Sicherheit zeitweise bei den Großeltern. Nachdem ihr Vater verhaftet worden war, ging die Mutter mit ihr in den Untergrund. Nach Installation des Triumvirats der Militärjunta ab März 1976, bestehend aus den Oberbefehlshabern der drei Waffengattungen: Jorge Rafael Videla, Emilio Eduardo Massera und Orlando Ramón Agosti, wurde von den Montoneros ein Kaninchenhaus eingerichtet, das als Versteck für eine Druckerei diente. Alcobas Mutter brachte dort eine Zeitschrift heraus, die „Evita Montonera“.

Unter einem anderen Namen ging Laura zur Schule. Die Alcobas freundeten sich mit den Aktivisten Daniel und Diana an. Bevor die schwangere Diana ihr Kind zur Welt brachte, flohen Mutter und Tochter Alcoba ins Exil nach Frankreich, wo die Autorin heute noch lebt. 2003 suchte Laura Alcoba das Kaninchenhaus noch einmal auf. Die wieder aufkommenden Kindheitserinnerungen waren der Auslöser für das nun vorliegende Buch.

Das schmale Romänchen hat im großzügigen Satz einen Umfang von knapp 110 Seiten. Die Sprache und die formale Gestaltung sind einfach gehalten. Die Perspektive ist die eines Kindes, erfahren wir im Prolog.

Laura bekommt von gewalttätigen Auseinandersetzungen, Folter und Junta kaum etwas mit. Der Text bietet ein paar vage Referenzdaten, politische und gesellschaftliche Zusammenhänge entziehen sich Lauras Kenntnis. Wie gefährlich ein Kind für Menschen im Widerstand sein kann, veranschaulicht die Autorin in einer Szene, die eine Hausdurchsuchung zum Thema hat: gerade, als die Polizei gehen will, macht ein kleines Kind sie durch einen Fingerzeig auf das gesuchte Versteck aufmerksam. Auch Laura erweist sich als latente Gefährdung, so, wenn sie ihren aktuellen Namen verwechselt.

Alcoba legt der kleinen Erzählerin keine Werturteile in den Mund. Politik und Terror kommen an das Mädchen nicht wirklich heran, und was sie davon wahrnimmt, wird für sie schnell Alltag. Überwiegend ist die Perspektive des siebenjährigen Mädchens glaubwürdig. Mitunter jedoch gibt es kleinere Probleme: „Vor dem kleinen Haus trennt ein grünes, stellenweise verrostetes Gitter einen kleinen Vorhof von einem Gehsteig, der weniger ein Gehsteig ist als ein paar Platten, Steine, etwas Sand und etliche Erdhaufen, […].“

Das dürften eher nicht Wahrnehmungen eines Kindes sein. Im Prolog schreibt Alcoba denn auch, sie strenge ihr Gedächtnis an, aus der Sicht eines Kindes vom Argentinien der Montoneros zu sprechen. Vielleicht ist diese Aussage ein Hinweis der Autorin auf das Bemühen und das momentweise Misslingen des selbst gesetzten Anspruchs, mithin ein Kommentar auf Facetten von Erinnerungsarbeit an sich.

Indem sich die erwachsene Laura erinnert, sondiert sie für die Darstellung aus tausenden möglichen Erinnerungsseiten und gestaltet bereits damit schon Bedeutung. Diese aber ist abhängig von ihren persönlichen Absichten, die sie mit dem Text verfolgt, wiederum aus der Sicht der Erwachsenen. Die von der Autorin behauptete Perspektive des Kindes ist eine hieraus abgeleitete Größe: In welcher Qualität kann sie sich an die Zeit der Diktatur so erinnern, dass diese Erinnerungen als die eines siebenjährigen Kindes glaubwürdig erscheinen? Ob ihr dieses Vorhaben gelungen ist, mögen die Leser jeweils für sich entscheiden.

Das Büchlein ist seltsam beobachtungsarm. Der beschriebene banale Alltag kann grundsätzlich auf zwei Arten von Lesern treffen. Die einen haben Kenntnisse über die Zeit der argentinischen Diktatur und sind so in der Lage, die Darstellung aufzuladen oder zu ergänzen, wodurch der Text beobachtungsreicher wirkt, als er es tatsächlich ist. Es gibt ein paar Einschübe, in denen sich die Autorin zu Wort meldet, und in die Erinnerungen des Kindes webt sie einige wenige politische und kulturelle Daten ein, zumeist Nachnamen aus dem politischen Raum, die die siebenjährige Laura vermutlich nicht gekannt haben dürfte.

Die zweite Gruppe von Lesern verfügt über keine Vorkenntnisse, kann vielfach mit dem Beschriebenen, so manchen en passant erzeugten Hinweisen, nichts anfangen und das Buch vielleicht uninteressant finden

Titelbild

Laura Alcoba: Das Kaninchenhaus. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Angelica Ammar.
Insel Verlag, Berlin 2010.
119 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783458174929

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