Die Wörter, die Dinge, die Angst und die Diktatur

Herta Müllers Poetik-Vorlesungen bezeugen gerade als gesprochenes Wort Vergangenwart und Gegenheit

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Erzählerin und Romanautorin hat Herta Müller mit ihrem Dokumentar-Roman über Oskar Pastiors Lagererfahrungen „Atemschaukel“ einen neuen Höhepunkt ihrer Prosa erreicht. Ihre Texte erzählen so sprachsensibel wie geschichtsgesättigt von den Schrecken, denen die Opfer von Diktatur, Totalitarismus, Überwachung und Emigration ausgesetzt waren. Mit unvergleichlicher Veranschaulichungskraft skizzierte die rumäniendeutsche Autorin in „Atemschaukel“ die lebensprägenden Erinnerungsspuren, die solche traumatischen Erfahrungen, gerade auch in den späteren Träumen der Überlebenden, hinterlassen.

Bald nach Erscheinen von „Atemschaukel“ erhielt Müller den Literatur-Nobelpreis, der ursprünglich als Preis für das wichtigste literarische Werk des vergangenen Jahres ausgelobt wurde, doch schon lange faktisch als eine Auszeichnung für ein Lebensgesamtwerk vergeben wird. Im Falle Herta Müllers traf die Entscheidung des Nobelkomitees nicht nur eine würdige Laureatin, sondern sie war für dieses eine Mal tatsächlich auch in beider Hinsicht stimmig: Die Autorin hatte seit gut 25 Jahren ein vielfältiges Werk kunstvoller Prosa und Lyrik vorgelegt. Sie hatte in Essays und Vorlesungen über Fragen der Ästhetik und Poetik reflektiert. Die Kunstprobleme sind bei Müller aufgrund ihrer Lebenserfahrungen stets mit Politik und Moral verbunden. Dazu hatte sie mit „Atemschaukel“ gerade wieder ein epochales Buch über die Verschleppung deutschstämmiger Rumänen in russische Arbeitslager geschrieben, das Dokumentarismus mit Sprachreflexion in künstlerisch bezwingender Weise zu vereinen verstand.

Im Gefolge des Nobelpreises steigt die Aufmerksamkeit für die Ausgezeichneten naturgemäß gewaltig. So ist es vermutlich zu erklären, dass nun auch die Live-Mitschnitte ihrer drei Tübinger Poetikvorlesungen als Audio-CDs veröffentlicht wurden. Diese Vorlesungen wurden schon im Jahr 2001 an der schwäbischen Universität gehalten und fanden 2003 Eingang in Herta Müllers Poetik- und Erinnerungsband „Der König verneigt sich und tötet“. Der Inhalt dieser Vorlesung ist mithin länger schon bekannt – und doch bietet das nun zugänglich gemachte mediale Format des Vorlesungsmitschnitts einigen Mehrwert. Dieser besteht nicht nur in der eigentümlichen dialektalen Färbung von Müllers Sprache, die in ihrer Intonation die erste Hälfte ihres Lebens im rumänischen Banat bewahrt und bezeugt. Die in den Texten mit hohem Sprachbewusstsein vorgetragenen Überlegungen über den Zusammenhang von Sprache und Umwelt, über Sprechen, Fühlen, Denken und soziale Zusammenhänge räsonieren als gesprochene Worte vor einem Publikum nochmal anders als in der Buchstabenform des gedruckten Buches.

Der erste Satz, der auf der CD nach Herta Müllers ‚Guten Abend’ erklingt, findet sich nicht in der Buchfassung – und ist doch nachgerade bezeichnend. Denn er setzt einen aufschlussreichen Akzent für die folgenden drei Stunden der Poetikvorlesungen. Müllers erste Worte im Hörsaal lauten: „Ich bin nicht ganz ohne Angst. So viele Leute. Ich versuche, mein Bestes zu tun.“

Der wunderbar markante Schlusssatz ihrer letzten Vorlesung wiederum konstatiert: „Wenn wir schweigen, werden wir unangenehm, wenn wir reden, werden wir lächerlich“. Er ist zugleich der Titel dieser Vorlesung. Dieser Text wurde – als ein intensiver Höhepunkt von Herta Müllers Reflexionen über ihr Schreiben und das Leben in der Diktatur und in der Emigration – schon mehrfach publiziert; etwa auch im „Text und Kritik“-Band über Herta Müller. Andere Motive und Zusammenhänge der Vorlesungen verweisen auf Anekdoten und Bilder aus ihrem Roman „Herztier“, die hier anspielungsreich zitiert und gelegentlich auch verdeutlichend kommentiert werden. Zudem begegnen Passagen, die aus ihrer – 2001 unter dem Titel „Heimat ist, was gesprochen ist“ publizierten – Ansprache an Abiturienten bekannt sind. Fortgeschrieben und weitergedacht wurden in den Tübinger Vorlesungen auch poetologische respektive phänomenologische Überlegungen „über Augen und Sinne“, die in Müllers frühen Dichtungsreflexionen „Der Teufel sitzt im Spiegel“ bei Rotbuch 1991 veröffentlich wurden.

Müllers Arbeiten als Poetin wie als Poetologin sind gekennzeichnet von einer eindringlichen Reflexion über Wörter, Sätze und ihre situierten Verwendungsweisen. In ihrer Vorlesung erinnert sie sich an das agrarisch geprägte Landarbeitsleben, in dem die Worte direkt auf den Dingen zu liegen schienen. Die harte körperliche Arbeit war eine Schule des Schweigens. Sprache wurde nur zur notwendigen Arbeitskoordination verwendet in dieser ländlichen Welt. Eine Nichtübereinstimmung von ‚draußen bei den Händen’ und drinnen im Kopf passierte hingegen, wenn die Angst kam. Mit dem großen, gleichfalls rumänischstämmigen französischen Aphoristiker Emile Cioran konstatiert Müller: „Die Augenblicke der grundlosen Angst kommen der Existenz am nächsten.“

In ihrem Vortrag erörtert die Autorin eigene Erinnerungen an deutsche und rumänische Wörter sowie an die Dialektworte und deren jeweilige Unübersetzbarkeiten. Sie erzählt und analysiert die Gefühle und Erlebnisse, die an diesen Wörtern und Redensarten haften. Wie in ihren Romanen findet sie dabei kraftvolle Bilder und Formulierungen: „Ich sah immer, dass das Feld mich nur ernährt, weil es mich später fressen will.“ Landschaft erscheint ihr so als Friedhof, Natur als ein Leichenschmaus. Die fundamentale Einsamkeit in dieser Provinz, die gleichermaßen von familiären Verstrickungen in die Nazi-Taten und dem angsterregenden Securitate-Regime Ceaucescus geprägt war, machte den Alltag und das vermeintlich Gewöhnliche zu einer fremden und befremdlich unwirtlichen Welt. Die Endlichkeit der Sprache wurde dieser so sprachsensiblen wie sprachskeptischen Dichterin früh klar. Es sei nicht wahr, dass es für alles Wörter gebe; auch passiere nicht alles Denken in Wörtern. Noch heute findet diese sprachmächtige Autorin für vieles und Entscheidendes keine Ausdrücke. „Den Glauben, Sprache komme den Wirrnissen bei, kenne ich nur aus dem Westen.“ Im rumänischen Maisfeld gab es weder Sprache noch die Hoffnung auf Sprache und Ausdruck.

Dennoch drängte der Wunsch, es sagen zu können. Auf dem Dorf gab es freilich keine Sprache, sondern nur Schweigen; in der Stadt hingegen gab es viel Gerede, aber keine Gedanken.

Andere Ausführungen in diesen metonymisch abschweifenden und doch motivisch dicht gewebten Vorlesungs-Meditationen gelten dem Nachleben der Toten: So halten das Werkzeug des Vaters und sein Aprikosenbaum diesen Abwesenden für seine Tochter präsent. Später in Berlin hält ein einzelner Aprikosenbaum, dem sie an der S-Bahn immer wieder begegnet, Erinnerungen an das verlassene Land wach.

Die Hauptlandessprache Rumänisch hat die Dichterin erst mit 15 gelernt, als sie in die Stadt kam. Doch eines Tages spricht es der Mund alleine. Freilich bleibt ihr eine gesteigerte Sprachaufmerksamkeit, das stetige Horchen auf die Vokabeln. Ihr Vortrag führt einige dieser lebenslänglich reflektierten Wortvergleiche zwischen Rumänisch und Deutsch vor: der Wind ‚weht‘ oder ‚schlägt‘. Je nach Sprache ist eine Lilie männlichen respektive weiblichen grammatischen Geschlechts; „eine doppelbödige Lilie ist immer unruhig im Kopf und sagt deshalb mehr als eine einsprachige Lilie.“ Herta Müller erwähnt auch das Glück des Staunens, wenn die andere Sprache die Dinge verwandelt – durch andere Worte. Das Rumänische schreibt immer mit, weil es ihr in den Blick hineingewachsen ist, auch wenn Herta Müller noch keinen Satz in ihren Büchern auf Rumänisch geschrieben hat.

Ihre Reflexionen über die divergierenden Heimatbegriffe der Dorfleute, der Städter und der Emigranten (der vor den Nazis Geflohenen und der vor dem Ceausescu-Regime) und ihre Abgründe führen sie zum Einverständnis mit einem anderen wortmächtigen Schriftsteller:

„Jorge Semprun sagt: nicht Sprache ist Heimat, sondern das, was gesprochen wird.“ Und das selbst Erlittene lässt sie eingedenk sein der andernorts anhaltenden Zensur- und Verfolgungsverhältnisse: „Wie viele Iraner, Kubaner und Chinesen werden heute noch für Sätze in ihrer Sprache ins Gefängnis geworfen?“

Sprache war und ist für Herta Müller „nirgends ein unpolitisches Gehege“. Man müsse ihr immer aufs Neue ablauschen, was gerade mit der Sprache und in ihr getan wird. Empfindlicher als viele Westmenschen, die in so mancher Kuriosität des Realsozialismus heute hauptsächlich die absurde Komik goutieren, bemerkt Müller in den Begriffsschöpfungen der sozialistischen Sprache, in Worten wie ‚Erdmöbel‘ (für Sarg) oder in Bezeichnungen wie ‚Freud und Leid’ für die Stasi-Gratulationsabteilung, Indizien von Emotionen. Sie liest die Worte als Zeugen von Angst; Angst vor dem Tod. Denn diese Euphemismen suggerieren ein Weiterleben unter der Erde, nach dem Tod, im Erdmöbel.

Herta Müller Romane und auch ihre poetologischen Reflexionen verharren im Ernst; sie bieten kaum Raum für Heiterkeit und Humor. Die Verhältnisse, die sie schildert, mögen oft absurd sein, doch schreckt sie vor einer witzigen Ausbeutung komischer Kontraste zurück. Zwar wird im Hörsaal-Publikum bei so mancher Anekdote oder Formulierung gelacht, doch scheint dies durch Müllers Tonlage nicht wirklich intendiert. Die Autorin gesteht, dass ihr die Aggression, die vielen Witzen und Witzbolden eigen ist, nicht geheuer ist: „Mit den subversiven gegen die Staatsmacht gerichteten Witzen gingen auch die rassistischen einher; genauso ist es auch mit den Redewendungen. Und noch die Werbung hier in der freien Marktwirtschaft nutzt den Witzeffekt von Worten und Bildern.“

Sie könne nicht anders und nehme diese Bilder ernst. Sie erschrecke über gedankenlos gewalttätige Werbemotive, wie etwa Vampirbisse an einem Frauenhals in einer Werbung fürs Internet; oder ein spitzstöckeliger Frauenschuh auf einer Männerhand. „Vor der Brutalität verliert jede Schönheit ihren Eigensinn. Sie wölbt sich in ihr Gegenteil.“

Weniger bekannt als ihre Romane und Erzählungen sind bisher Müllers Klebe-Gedichte. In den Vorlesungen berichtet sie vom demotivierenden Literaturunterricht der Schule: „Nach 12 Jahren Schule litt ich an einem regelrechten Reimekel.“ Später entstehen dann geklebte Gedichtcollagen aus wenigen Worten. Über das Ausschneiden der Zeitungswörter kam sie dann doch auf den Geschmack des Reimens. Der Reim wirbele auf und diszipliniere. Durch Schnippeln und Reimen werde sogar das Wort ‚König‘ – Müllers wiederkehrender Statthalter-Begriff für ‚Diktator‘ – verwendbar. Das Wort ‚König‘ als Widerschein der Dinge und des Ausmaßes des Geschehens sei ihr aus Rumänien nach Deutschland gefolgt. Im Auftrag des Geheimdienstes war ihr auch eine todkranke, enge Freundin nach Deutschland gefolgt. Sie hatte sich dem Geheimdienst (‚dem König, der mich töten wollte‘) zur Verfügung gestellt. „Der Verlust dieser Freundschaft ist bis heute eine Schneise in meinem Leben“, bekennt die Autorin und fragt: „Wieso und wann geht Liebe zum Mord?“

Schlüssig sind Herta Müllers erfahrungsbasierte Reflexionen über Ideologie als Gegensatz zu Moral und Beobachtung. Ideologie habe immer das Ganze im Auge und bestimme erlaubte und verbotene Sätze. Ideologie baue mit Fertigteilen. Die moralische Verpflichtung hingegen irritiere Ideologien, weil sie das Ganze nicht kennt und sich ihm nicht verpflichtet fühlt; ihre Sätze sind einzelne Urteile über einzelne Tatsachen. In ihren Vorlesungen wechseln solche scharfsinnigen Begriffsbestimmungen und Philosopheme mit Erinnerungen an persönlichste Erfahrungen. Müller spricht hier über Selbstmordgedanken, die sie als befreienden Ausweg aus den schrecklichen Verhältnissen bis zu konkreten Vorbereitungen geführt hatten. Am Fluss hatte sie die Steine für die Manteltasche schon ausgesucht. Die Vorbereitung dieses Auswegs wurden, weil das Herztier nicht wollte, nicht ausgeführt. Und dann hatte ihr der Geheimdienst – wie so vieles anderes auch – den Selbstmord ‚verdorben‘. Sie entschied: Solle der Geheimdienst doch die Drecksarbeit übernehmen – und hielt sich ab diesem Tag vom Fluss fern. Andere Regimegegner, deren gefesselte ‚Wasserleichen‘ die Autorin mit Freunden zufällig auf dem Friedhof sieht, wurden offenbar tatsächlich von der Securitate umgebracht.

Von unheimlichen Verfolgungen berichtet auch ein achtminütiges, den drei Poetik-Vorlesungen beigefügtes Kurzstatement zum Stichwort ‚Zukunft‘. „Kurz nach meiner Zukunft – also nach meiner Ankunft in Deutschland“ begegnete die Autorin auf einer Zugfahrt einer Fremden, die ein altes, von ihrer Grossmutter genähtes Nachthemd zu tragen scheint und solcherart als Geheimdienst-Mitarbeiterin aus Rumänien wirkt. Details von jetzt und damals verbinden sich in ihrer Wahrnehmung: unerlaubt entstehen „Vergangenwart und Gegenheit“. Mit diesen buchstabentauschenden Wortschöpfungen findet die Autorin eine treffliche Begrifflichkeit für die Zeitphänomenologie eines nachhaltig von gewaltförmigen Geschichtsmächten geprägten Lebens.

Die ganz offenbar technisch nicht besonders vor- oder nachbereiteten Live-Mitschnitte dieser Tübinger Vorlesungen sind von überhaupt nicht makelloser Soundqualität und natürlich keineswegs mit Studio-Produktionen von Hörbüchern zu vergleichen. Es brummt ein Mikrophon, es husten und lachen die Studenten. Die Lautstärke der Vorlesungen schwankt. Die kurze Vorlesung zum Thema ‚Zukunft‘ ist übersteuert; Herta Müller klingt hier künstlich heiser und scheint beinahe schreiend vorzutragen.

Doch alles dies fördert letztlich noch den Ereignis-Charakter, die Performanz und Präsenz dieses Sprechens von quälenden Erinnerungen und ihrer literarischen Durcharbeitung. Die Stimme der Autorin und die Publikumsgeräusche bezeugen diese Sprechakte als biografische und poetisch-poetologische Reflexionen über das immer neu zu reflektierende und zu vergegenwärtigende Verhältnis von Sprache und Gewalt. Damit ermöglichen sie einen guten Einstieg ins produktive Zentrum von Müllers Werk.

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Herta Müller: Tübinger Poetik Vorlesungen. 3 CD.
Konkursbuchverlag, Tübingen 2009.
18,00 EUR.
ISBN-13: 9783887691882

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