Übles Psychospiel

In „Die Verlobung des Monsieur Hire“ von Georges Simenon wird die Geschichte einer Obsession und eine grausame Liebesgeschichte erzählt

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von April 2008 bis September 2009 veröffentlichte der Diogenes Verlag Zürich sämtliche Maigret-Romane von Georges Simenon. Immerhin 75 an der Zahl, also eine editorische Meisterleistung. Jeden Monat erschienen vier Krimis mit dem Pariser Kommissar Maigret. Doch dann war Schluss, und viele Leser litten bald unter Entzugserscheinungen.

Da kam natürlich die berechtigte Frage auf: Wo bitteschön bleiben denn die anderen Romane des Meisters, die Non-Maigrets? Und der Diogenes Verlag ließ sich nicht lange bitten: Im Oktober 2010 beginnt er nun mit der Herausgabe der „Ausgewählten Romane in 50 Bänden“ in der chronologischen Reihenfolge ihrer Niederschrift und in revidierten Übersetzungen.

Start dieser neuen Reihe und damit den ersten Band bildet der Roman „Die Verlobung des Monsieur Hire“, in dem Georges Simenon nicht die Auflösung eines Kriminalfalls in den Mittelpunkt stellt, sondern einen Kriminalfall zum Auslöser seiner Geschichte macht.

In einem Pariser Vorort ist eine Prostituierte ermordet worden. Ein sadistisches Verbrechen, bei dem die polizeilichen Ermittlungen nicht vorankommen wollen. Der unscheinbare Monsieur Hire, der zurückgezogen in einem Hinterhof wohnt, wird verdächtigt. Die Concierge des Mietshauses hat ihren Verdacht der Polizei mitgeteilt, und seitdem wird der kleine und dickliche Mann mit dem Schnauzbärtchen rund um die Uhr beschattet. Es gibt zwar keine Indizien, aber dieser Sonderling ist allen unheimlich. Es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis man ihn überführen wird. Und das möglichst schnell, damit in dem beschaulichen Viertel wieder Ruhe einziehen kann.

Monsieur Hire ist ein Außenseiter. Tagsüber sitzt er in einem Kellerbüro und betreibt ein undurchsichtiges Geschäft. Er inseriert in kleinen Zeitungen und sendet interessierten Lesern, die ihre Zeichenkünste verbessern wollen, schließlich kleine Päckchen mit irgendwelchen Malkästen und Malvorlagen.

Wenn Monsieur Hire jedoch abends nach Hause kommt, beobachtet er von seinem Fenster aus seine Nachbarin, die verführerische Mademoiselle Alice. Es ist seine heimliche Leidenschaft, der jungen Frau bei der Nachttoilette und bei ihrer allabendlichen Bettlektüre zuzusehen. Immer wieder genießt er ihren wollüstigen Körper.

Den freien Sonntag verbringt Monsieur Hire damit, der hübschen Nachbarin und ihrem Liebhaber unauffällig auf den Sportplatz oder ins Kino zu folgen. Während ihr Freund ahnungslos ist, bemerkt Alice dieses Nachspionieren und wirft ihm hin und wieder einen Blick zu, ein Lächeln, ja sie scheint ihm sogar Zeichen zu geben. Und eines Abends steht sie vor seiner Tür.

Als Monsieur Hire eine polizeiliche Vorladung erhält, überschlagen sich die Ereignisse. Immer wieder versucht er, einen Brief an den Staatsanwalt aufzusetzen. Oder sollte er mit Alice fliehen? Ein Gedanke, der schließlich ins Verderben führt.

In „Die Verlobung des Monsieur Hire“ erweist sich Georges Simenon als ein meisterhafter Schilderer der menschlichen Einsamkeit, als Anwalt der Versager, der Erniedrigten und Beleidigten. Der Roman schildert eine Menschenjagd, denn Monsieur Hire hat sich eigentlich nichts zu Schulden kommen lassen, aber die Nachbarschaft und die Polizei brandmarken ihn und treiben ein übles Psychospiel mit ihm. Simenon gestaltet hier den Ausbruch der Massenseele, wie sie, aufgehetzt und ohne eigenes Urteil, von Affekten und Impulsen blind getrieben wird.

Der Roman, der 1933 unter dem Originaltitel „Les fiancailles de Monsieur Hire“ erschien, wurde erst 1978, also 45 Jahre später, in deutscher Sprache veröffentlicht. Außerdem wurde er mehrfach verfilmt, unter anderem mit Michel Simon in der Hauptrolle (1946).

Titelbild

Georges Simenon: Die Verlobung des Monsieur Hire. Ausgewählte Romane Band 1.
Übersetzt aus dem Französischen von Linde Birk.
Diogenes Verlag, Zürich 2010.
172 Seiten, 9,00 EUR.
ISBN-13: 9783257241013

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