Lyrik im Zeichen der Swastika

Über Ernst Osterkamps Studie „Poesie der leeren Mitte. Stefan Georges Neues Reich“

Von Torsten MergenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Mergen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Stefan George ist in der Germanistik wieder im Gespräch. Er gilt als Wiederentdeckung, was man an einer wachsenden Zahl von biografischen und kulturwissenschaftlichen Studien ablesen kann. Der Berliner Professor für „Neuere deutsche Literatur“, Ernst Osterkamp, betrachtet diese George-Renaissance seit der Mitte der 1990er-Jahre und konstatiert im Sinne einer kritischen Würdigung: „Es ist die Faszination der Gestalt, nicht diejenige des Werks, woran sie sich entzündet.“ Oftmals werde das Werk zu einem Instrument beziehungsweise „Steinbruch“ rhetorischer Eloquenz im wissenschaftlichen Argumentationsgang und verliere seinen Status als ästhetisch autonomes Kunstwerk, dessen literarischer Eigenwert nicht hinreichend respektiert erscheine.

In der renommierten Reihe „Edition Akzente“ des Hanser Verlages setzt der Wissenschaftler nun einen mit knappen Anmerkungen versehenen, sprachlich und fachlich prägnanten essayistischen Kontrapunkt. Seit 2002 – beginnend mit einem Vortrag über den „späten“ George in der Münchner Carl Friedrich von Siemens Stiftung – kreist Osterkamps philologisches Interesse im Kontrast zu vielen anderen Ansätzen in der Germanistik um die Gedichte des letzten Gedichtbandes Georges aus dem Jahr 1928 mit dem markanten Titel „Das Neue Reich“. Für die wissenschaftliche Redlichkeit des Verfassers spricht, dass er – in bewusster Abgrenzung von der „dominanten“ George-Forschung – seine Methodik einer kriterialen Musterung unterzieht. Das ursprüngliche Vorhaben, „Gedicht für Gedicht […] Das Neue Reich einer mikrophilologischen Lektüre“ auszusetzen, wurde aufgegeben.

Statt dessen analysiert und interpretiert Osterkamp vier bedeutungsschwere Gedichte aus dem Zyklus. Es handelt sich um die Gedichte „Der Gehenkte“, „Goethes letzte Nacht in Italien“, „Hyperion“ und „An die Kinder des Meeres“. Davon ausgehend zeigt er die sogenannten Kernzonen des von George konzipierten „Neuen Reiches“ auf. Dieses ist durch eine eigenwillige Konzeption geprägt, wie bereits „Der Gehenkte“ programmatisch belege, denn darin werde aus der Position des Dichter-Sehers ein „nach dem Modell von Herrschaft und Dienst organisierter Gegen-Staat“ geformt, welcher an die utopische Vergangenheit des Staufer-Reiches anknüpfe. Die historische Abrechnung mit der Gegenwart lasse sich auch in „Goethes letzte Nacht in Italien“ herauslesen, welche einen „Erlösungsweg im Zeichen eines neuen Gottes und eines nationalen Erlösungsphantasmas“ durch eine „Totalerneuerung des Lebens“ aufzeige.

Gemäß Georges Vorbild Hölderlin wandelt sich in diesem Zusammenhang die soziokulturelle Funktion des Dichters. Folgt man Osterkamps Ausführungen zum Gedicht „Hyperion“, dann agiert George als Seher und Wahrsager, der das „Neue Reich“ anbahnt: „in der Mitte einer diffundierenden Moderne der plastische Volkskörper der deutschen Nation, als deren organisierendes Zentrum der Kreis der zur ‚vollendung‘ Schreitenden, dessen geistiger Glutkern aber das Werk Georges.“

Ein solche Konzeption bedürfe eines expliziten Synkretismus, also einer Theologie ohne Metaphysik ebenso wie einer göttlichen Immanenz, wie dies am Exempel des Gedichtes „An die Kinder des Meeres“ aufgezeigt wird. Mit den Worten Osterkamps: „Die Poetik des Neuen Reichs lebt von der kritischen Gegenspannung zwischen der äußersten Negativität der Zeit und einem sie richtenden Göttlich-Absoluten, das zugleich abwesend und anwesend ist: abwesend in der Zeit und anwesend in der Dichtung Georges“.

Dass in einer solchen fiktiven und poetisch fingierten Wirklichkeit moderne Gender-Prinzipien einer radikalen Infragestellung ausgesetzt waren, ist eine wohlbekannte Tatsache. Georges Frauenbild hatte mittelalterlich-ständischen Charakter und fragte nicht nach Emanzipation oder Egalität, sondern reduzierte Frauen auf die Rolle der „Reproduktionsheloten“. Am Beispiel mehrerer Gedichte – auch des Frühwerks – belegt Osterkamp Georges Sympathie für einen vormodernen Frauentypus und zeigt die Konzeption eines „Reichs ohne Frauen“.

Trotz der diversen elitären und exklusiven Momente kann Osterkamp die Realisierungsversuche und die Gründe ihres zeitbedingten Scheiterns nachzeichnen. Im November 1928 sei es zu einer Lesung des Bandes „Das Neue Reich“ gekommen. Viele Anwesende hätten dies als den Startpunkt des „Geheimen Deutschland“ interpretiert, da „Stefan Georges Neues Reich […] der geistige Staat des Geheimen Deutschland“ war.

Dass jedem Aufbruch beziehungsweise Anfang ein Zauber innewohnt, ist wohlbekannt. Der Aufbruch ins „Neue Reich“, dessen literarisches Monument alle Bestandteile symbolisch und metaphorisch antizipierte, ging allerdings synchron mit dem Aufkommen einer politisch dominanteren und massenwirksameren „Bewegung“, die 1933 „ihr“ Reich sukzessive Wirklichkeit werden ließ: „Mit welchen geschichtlichen Kräften politisch-praktischer Zukunftsgestaltung er zu konkurrieren hatte, erfuhr George […] an der Enteignung seines seit Jahrzehnten eingeführten Zentralsymbols, der Swastika.“ Diese wurde von den Nationalsozialisten als „Hakenkreuz“ übernommen, bereits 1928 musste Georges Verlag Georg Bondi explizit auf den Bedeutungswandel dieses Symbols hinweisen und insistieren, dass Georges Swastika „mit Politik nichts zu tun“ habe.

Kurzum: Wer Stefan Georges Spätwerk näher kennen lernen will, kommt in Zukunft an Osterkamps Analysen nicht mehr vorbei. Kritisch rückfragen muss man allerdings nach der Repräsentativität der wenigen in extenso analysierten und interpretierten Gedichte. Manches Kapitel hätte bei anderer Autorenintention grundsätzlicher und weniger pointiert ausfallen können; allerdings ist dies der Textsorte geschuldet und damit dem Buch nicht vorzuwerfen. Denn es evoziert Fragen nach der Rolle von Philologie und Kulturwissenschaft, der Gewichtung von Werkanalyse und Biografie sowie von Literatur und Politik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die in toto nachvollziehbar sind und den Reiz germanistischen Arbeitens belegen. Dass der Band darüber hinaus für den „Typus“ Stefan Georges als „Dichter-Seher“ diskussionswürdige Thesen liefert, belegt die Wirkungsmacht wissenschaftlicher Essayistik.

Titelbild

Ernst Osterkamp: Poesie der leeren Mitte. Stefan Georges Neues Reich.
Carl Hanser Verlag, München 2010.
295 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783446235007

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