Gähn!

Dietmar Bittrich hat die deutsche Literatur als Betthupferl entdeckt

Von Saskia SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Saskia Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es war ein erholsamer Monat. Abend für Abend las ich in den Auszügen aus Texten deutscher Literatur, die Dietmar Bittrich zum Einschlafen (ja! zum Einschlafen!) zusammenstellte. Ein Schlaftrunk in Textform, der seine Wirkung nicht verfehlte. Nicht ein einziger Morgen, an dem ich nicht mit dem Kopf auf den aufgeschlagenen Seiten aufgewacht wäre, keine einzige Nacht, die ich nicht durchgeschlafen hätte.

Die Auszüge aus Werken vor allem von Autoren des 19. Jahrhunderts seien in „einschlaftauglicher Länge“, so der Herausgeber Bittrich im Vorwort. Und tatsächlich habe ich keinen einzigen der Texte zu Ende lesen können. Die Naturbeschreibungen, die detailliert ausgeschmückten Szenen von am Strand sitzenden Menschen, deren Blick ins Weite geht, die Schilderungen von gemächlichem Wandern durch den Harz – sie alle beruhigen, und der Schlaf übermannte die im Schein der Nachttischlampe Lesende sanft.

Die Auswahl Bittrichs ist also gelungen: 26 Texte, unter ihnen Joseph von Eichendorffs „Ein träumerischer Tag“, Eduard von Keyserlings „Einschlafen am Meer“ und Ludwig Ganghofers wortwörtliches „Schweigen im Walde“ sorgen für eine Stimmung von Stille, Entspannung, Kontemplation – und Müdigkeit.

Es ist natürlich frech von Dietmar Bittrich, Werke des Literaturkanons als Einschlafmittel vorzuschlagen. Doch der Autor von Büchern wie „Wie man sich und anderen das Leben schwer macht“ und „Altersglück – vom Segen der Vergesslichkeit“, der (laut Vorwort) Germanistik studierte, weil er sah, wie friedlich die Kommilitonen in der Bibliothek schlummerten, rühmt die Texte ob ihrer Qualitäten: Einschläfernd seien sie nämlich wegen ihrer Sprachmelodie, der „herrlich verlangsamenden Nebensätze, labyrinthischen Schachtelungen, ausufernden Einschübe und endlosen Parenthesen“. Und so findet der nimmer zur Ruhe kommende Mensch heute – von kurzen, sachlichen E-Mails gestresst, von Telefonaten und Meetings gequält – Erholung in der deutschen Dichtung des 19. Jahrhunderts, die ihn Langsamkeit lehrt, Beschaulichkeit – und das Einschlafen.

Titelbild

Dietmar Bittrich (Hg.): Gute Nacht! Mit deutscher Dichtung in den Tiefschlaf.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2007.
240 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783455400823

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