Apokalypse im Expressionismus

Rationalität, Naturbilder und zivilisationskritische Zukunftsvisionen

Von Silvio ViettaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Silvio Vietta

I. Rationalität in Deutschland um 1910 und das Motiv „Weltende“

Zu den seltsamen Phänomenen der deutschen Kulturgeschichte vor und nach 1900 gehört eine seltsame Ambivalenz. Deutschland ist um 1900 das führende Volk in Sachen Rationalismus, wenn wir die Entwicklung der Physik, Chemie, Maschinentechnik, Industrialisierung und den Städtebau einschließlich der Verkehrsentwicklung dazu zählen. Deutschland ist in all diesen Sparten Weltmarktführer, auch die deutsche Universität ist ein Modell für andere Länder, etwa die USA. Die meisten Nobelpreise gehen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in den Naturwissenschaften an deutsche Gelehrte, die ja vielfach jüdischer Abstammung sind. Berlin, das Zentrum des noch relativ jungen Deutschen Reiches, war eine boomende Stadt, die am meisten „amerikanische“ Großstadt Europas mit einem Einwohnerwachstum von 800.000 um 1870 bis über vier Millionen 1920. Das neue Deutsche Reich hat eine enorme Erfolgsgeschichte aufzuweisen. Nach Schätzungen von Nationalökonomen „verdreifachte sich die industrielle Leistung der deutschen Volkswirtschaft im letzten Vierteljahrhundert vor 1913“ (Hubert Kiesewetter: Industrielle Revolution in Deutschland. Regionen als Wachstumsmotoren. Stuttgart 2004) Deutschland steht um 1900 als eine der großen Weltmächte in der globalen politischen Landschaft.

Aber dieser Weg setzt offensichtlich – und wie sich zeigte zu Recht – auch Ängste frei. Deutschland ist seiner neuen politischen Rolle offenbar nicht gewachsen. Der Deutsche Kaiser, der vielleicht nicht so schlecht war, wie er in den politischen Karikaturen erscheint, auch in Heinrich Manns kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges beendetem Roman „Der Untertan“, ist aber doch kein Bismarck gewesen, dessen kluge Bündnispolitik er verpatzte, so dass Deutschland zu Beginn des Ersten Weltkrieges zwar in „Nibelungentreue“ an der Seite Österreichs stand, aber sich auch umzingelt sah von den Kriegsgegnern England, Russland, Frankreich und später – kriegsentscheidend – den USA. Dabei wollen wir hier gar nicht die Frage nach der Kriegsschuld aufrollen. Sie hat die Gemüter – Fritz Fischer auf der einen Seite, Gerhard Ritter auf der anderen – der Geschichtswissenschaft in Deutschland eine Zeit lang heftig umgetrieben. Aber festhalten können wir: Der Rationalität – auch in der Kriegsrüstung dieser Zeit – folgte ihr irrationaler Schatten auf dem Fuß: Die politische Nichtbewältigung der mit jener errungenen Machtstellung.

Bekanntlich lag der große Krieg ab der ersten, spätestens Zweiten Marokkokrise- 1906 und 1911 – atmosphärisch geradezu in der Luft. Letztere hatte ein Kriegsboot ausgelöst, das der Kaiser vor Agadir auflaufen ließ, um deutsche Kolonialansprüche auf Länder in Afrika anzumelden. In den Zeitungen war damals schon vom drohenden Krieg die Rede. Der kommende große Krieg war, noch bevor er ausbrach, schon präsent in den Köpfen vieler Expressionisten, auch wenn man sich die Schrecken eines großtechnischen Krieges noch nicht vorstellen konnte. Georg Heym, der im Januar 1912 starb, hat ihn gar nicht mehr erlebt. Bereits im September 1911 dichtet er Verse auf den Krieg: „Aufgestanden ist er, welcher lange schlief…“. Seine Übergewalt drückt Heym in einem Naturbild aus: „Und den Mond zerdrückt er in der schwarzen Hand“. So verarbeitet der Dichter hier bereits eine kollektive Bewusstseinslage, wie ja auch die Heym-Forschung erkannt hat. Auch der zeitsensible Ludwig Meidner beginnt 1911 eine Serie von apokalyptischen Szenen mit der Zeichnung „Schrecken des Krieges“. In der Forschung wurde auch das Motiv der „Apokalypse in Deutschland“ – so von Klaus Vondung in seinem Buch über die „Apokalypse in Deutschland“ von 1988 – vor allem mit der Drohung des Krieges in Zusammenhang gebracht.

Als dann der Erste Weltkrieg, die „Mutterkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts (Golo Mann) ausbrach, wurde er zum frühen Grab auch vieler Expressionisten: Georg Trakls (1914), Alfred Lichtensteins (1914), August Stramms (1915), Franz Marcs (1916) und vieler anderer.

1909 erscheint Jakob van Hoddis’ – Else Lasker-Schüler hatte seinen Namen per Anagramm aus Hans Davidsohn gebildet – kleines Gedicht „Weltende“. „Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut, / In allen Lüften hallt es wie Geschrei, / Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei / Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.“ Kein hölderlinsches Pathos, kein romantisches Naturgefühl. Vielmehr eine Bilderserie kleiner Katastrophen, kaleidoskopisch aufgereiht. Scheinbar harmlos und auch mit komisch verdinglichten Zügen („Dachdecker …gehn entzwei“). Die zweite Strophe: „Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen / An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken. / Die meisten Menschen haben einen Schnupfen. / Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.“

‚Hupfende‘ Meere mag van Hoddis in Stummfilmen gesehen haben, „Kientoppbildchen“, wie ein anderes expressionistisches Gedicht lautet. Sie mischen sich hier bunt mit Schnupfen und abstürzenden Eisenbahnen. Und dann ist da auch ein neuer Gast: Der Mensch als medialer Leser seiner eigenen Katastrophen („liest man“), oder heute: medialer Zuschauer. Katastrophenbilder mit überfluteten Küsten und einbrechenden Viadukten haben auch wir in den letzten Jahren mehrfach gesehen.

Das kleine scheinbar so harmlose Gedicht spricht offenbar ein Zeitgefühl aus, das mit der Kriegsdrohung allein noch nicht erklärt werden kann. Ich zitiere ein anderes Gedicht gleichen Namens, das Gedicht „Weltende“ von Else Lasker-Schüler. Es stammt aus „Der siebente Tag“ von 1905, wurde also sogar fünf Jahre vor dem expressionistischen Jahrzehnt veröffentlicht. Darin heißt es: „Es ist ein Weinen in der Welt, / Als ob der liebe Gott gestorben wär…“. Das deutet auf Friedrich Nietzsche, sein Wort vom Tod Gottes aus dem 125. Stück der „Fröhlichen Wissenschaft“, überschrieben „Der tolle Mensch“. Für Nietzsche und die Generation der Expressionisten war es auch das Ende einer Epoche der Theologie und Metaphysik. Der sichere Halt eines guten und für die Menschen sorgenden Gottes schien endgültig zerbrochen. Nietzsche wütet am Ende gegen den jüdisch-christlichen Gott, aber durch die Lyrik Lasker-Schülers weht eine eher melancholische Grundstimmung, die sie ja auch nur mit einem Potentialis an jene Botschaft anknüpft: „Als ob der liebe Gott gestorben wär“.

Als ich vor mehr als dreißig Jahren die Sammlung „Lyrik des Expressionismus“ zusammenstellte, bildete ich auch eine Gedichtgruppe unter dem Titel „Weltende“. Ich habe mir damals überlegt, was dieses Wort für die Expressionisten bedeutete und ergänzte es durch den Zusatz: „Ende der bürgerlichen Welt?“ Fragezeichen. Aber meinte das Motiv vielleicht doch mehr? Sicher ist, dass der Erste Weltkrieg einen gewaltigen Epochenumbruch markierte. Auch das expressionistische Drama ist von einer ähnlich apokalyptischen Zivilisationskritik bestimmt. In Georg Kaisers Drama „Von Morgens bis Mitternachts“ stiehlt ein kleiner Bankbeamter Geld, weil er sich davon in seiner sterilen Bankenwelt das erotische Glück der Verführung einer schönen Frau verspricht. Aber die Dame ist nicht käuflich und die „Dame Welt“, die er dann in der „großen Stadt B.“ mit seinem gestohlenen Geld sich kauft, zeigt sich als leer. „Von morgens bis mitternachts rase ich im Kreise – nun zeigt sein fingerherwinkendes Zeichen den Ausweg“ – und er „zerschießt die Antwort in seine Hemdbrust“ heißt es da.

Noch schroffer ist Kaisers Kritik in den „Gas“-Dramen. Gas steht hier für moderne Energie, auch in der Kriegsführung. Wir können ‚Atom‘ dafür einsetzen. Die beiden während des Krieges verfassten Dramen des „Gas“-Zyklus’ enden in der Apokalypse einer Weltzerstörung, in der es keine Sieger und Besiegte mehr gibt.

Das Gefühl des Zeiten-Endes und Epochenumbruchs berührt nicht nur die Generation der Expressionisten. Auch die Soziologie und Philosophie der Zeit ist geprägt von Untergangsvisionen wie jener in zwei Bänden 1918 und 1922 publizierte „Untergang des Abendlandes“ von Oswald Spengler. Der leitet diesen aus geradezu naturwüchsigen Zyklen der großen Imperien ab: Gründung, Aufstieg, Höhepunkt, Nieder-, Untergang. So sind die großen Imperien der Vergangenheit zerfallen, so könnte auch der Okzident untergehen, lautet die Prognose von Spengler, einer der meist gelesenen Autoren seiner Zeit. Nun war in der Tat der Erste Weltkrieg der Beginn einer Weltmachtverschiebung von Europa weg nach Amerika, Russland und später China. Nur ein Untergang? Oder nicht auch ein Neubeginn eines friedlichen Europa nach dem Zweiten Weltkrieg?

II. Naturbilder als eschatologische Geschichtszeichen in der Apokalypse und bei Ludwig Meidner

Das neue Zeitgefühl sucht nach eigenen Ausdrucksmöglichkeiten. Eines der großen Vorbilder der Epoche war die Apokalypse des Johannes aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert. In der europäischen Literatur gibt es zwei Stränge: Die aus der griechischen Mimesis-Tradition kommende Linie des Realismus und eine aus der jüdisch-christlichen Tradition kommende visionäre. Zur letzteren gehört Dante, die Romantik und auch der Expressionismus. Das Motiv Weltende kommt aus einer jüdisch-christlichen Tradition, nicht aus der griechischen – für jene war die Welt ewig, es gab weder einen absoluten Anfang noch ein Ende.

Das Matthäus-Evangelium lehrt das „Kommen des Menschensohnes“ im Kontext apokalyptischer kosmischer Zeichen: „Sogleich aber nach der Bedrängnis jener Zeit wird die Sonne sich verfinstern und der Mond seinen Schein verlieren, und die Sterne werden vom Himmel fallen und die Kräfte des Himmels werden ins Wanken kommen. Und dann wird erscheinen das Zeichen des Menschensohnes am Himmel. Und dann werden wehklagen alle Geschlechter auf Erden und werden sehen den Menschensohn kommen von den Wolken des Himmels mit großer Kraft und Herrlichkeit.“ (Mt. 24, 29-30) Diese Stelle, wie auch andere der Bibel weisen zurück auf die Apokalyptik des Alten Testamentes, so das Buch Daniel mit seinem Hinweis auf das „Gräuelbild der Verwüstung“ (Daniel 9, 24; 11, 31). Aber auch die Bücher Jesaja und Ezechiel enthalten ja apokalyptische Zukunftsvisionen.

Die Hauptquelle aber ist natürlich die neutestamentarische Apokalypse des Johannes, also jene Schrift, die wahrscheinlich Ende des ersten nachchristlichen Jahrhunderts von einem unbekannten Autor von der Insel Patmos im kleinasiatischen Raum verfasst wurde und sich an sieben juden-christliche Gemeinden dort wendet. Die Apokalypse des Johannes enthält eine Vielzahl von Stellen, in welchen der drohende Untergang der „Hure Babylon“ als Metapher für Rom und sein Imperium in naturgewaltigen Bildern evoziert wird: „Und ich sah: als ich das sechste Siegel auftat, da geschah ein großes Erdbeben, und die Sonne wurde finster wie ein schwarzer Sack, und der ganze Mond wurde wie Blut, und die Sterne des Himmels fielen auf die Erde wie ein Feigenbaum, der seine Feigen abwirft […]. Und der Himmel wich wie eine Schriftrolle, die zusammengerollt wird, und alle Berge und Inseln wurden wegbewegt von ihrem Ort.“ (Apok. 6, 12-15)

Mit den „Schalen des Zorns“ gießen die Racheengel Geschwüre über die Menschheit, Blut, Feuer, Hitze, Dürre, Donner, Hagel „wie Zentnergewichte“ (16, 21) Erdbeben und immer wieder Verfinsterungen über die Erde. Solche Verfinsterungen der Sonne bedeuten in der antiken Welt generell Unheil, hier aber verdichten sich die Bilder der Naturkatastrophen zu einem wahrhaft apokalyptischen Ausmaß, der einen Totaluntergang der alten heidnischen Welt beschwören will. Nach dem Jubel über den „Untergang“ Babylon-Roms (Apok. 19) freilich kommen dann die apokalyptischen Reiter, um das neue Zeitalter des christlichen Gottes zu kündigen und das „neue Jerusalem“ visionär vor die Augen des Lesers-Hörers zu rücken: „und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein. Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu!“ (Apok. 21,4)

Grundsätzlich bleibt festzuhalten: Die Apokalypse funktioniert Bilder von Naturkatastrophen um zu Bildern der Eschatologie, also der Heilsgeschichte, und dies vor allem mit drohendem Gestus. Andersherum formuliert: Es ist die Eschatologie, welche eine neue Dimension katastrophaler Naturbilder zu allererst kreiert und auf den Plan ruft, denn eine solche Bildsprache hatte es in der Antike bis dahin nicht gegeben.

Zu den kosmischen Erscheinungen, die um 1910 auch ein apokalyptisches Weltgefühl auslösten, gehörte das Erscheinen des sogenannten Halleyschen Kometen, dessen Schweif mit dem bloßen Auge sichtbar eine ungewöhnliche Erscheinung am Himmel war. In Georg Heyms Gedicht finden sich die Spuren solcher Himmelserscheinungen: „Die Menschen stehen vorwärts in den Straßen / Und sehen auf die großen Himmelszeichen, / Wo die Kometen mit den Feuernasen / Um die gezackten Türme drohend schleichen.“ Auch die Gedichte von Johannes R. Becher, dem späteren Kommunisten und Kulturminister der DDR, sind voll von apokalyptischen Drohbildern: „Stadt du der Qual: – in Höllenschlunde eingeschlossen […]“. Die Apokalypse ist in der Literatur und Bildkunst des frühen 20. Jahrhunderts wieder auferstanden. Ganz offensichtlich beschwört sie nun die Bedrohung einer ganzen Zivilisation. Eine Art Jüngstes Gericht, das über ihr schwebt, aber ohne die Hoffnung auf einen gerechten Gott im Hintergrund.

Vor allem aber nehmen die Bilder Ludwig Meidners die Bildzeichen der Apokalypse auf und übersetzen sie in eine moderne, expressionistische Bildsprache. So das Bild „Ich und die Stadt“, gemalt 1913. Oder seine „Apokalyptischen Landschaften“ von 1913, wohlgemerkt: Ein Jahr vor Kriegsausbruch, auf denen wir eine in Schrägen und Spitzwinkeln auseinander gerissene Welt sehen mit Himmelformationen, die bedrohlich auf der Welt lastet und voll sind von apokalyptischen Zeichen. Die Erde ist gänzlich instabil geworden, die Straßen sind aufgebrochen – Wege, auf denen Menschen mehr torkelnd als gezielt sich bewegend auseinander fliehen. Offenbar eine Welt am Rande des Zusammenbruchs.

III. Zukunftsvisionen und die expressionistische Zivilisationskritik

1910 veröffentlichte ein Verlag in Berlin ein Buch mit Blick auf die Zukunft: „Die Welt in hundert Jahren“. Es eröffnet sich hier die Perspektive auf ein „1000 jähriges Reich der Maschinen“. Die technisch-industrielle Moderne wird weitergesponnen: „Luftautomobile, die den sibirischen Himmel durchkreuzen“, Wärme aus Sonnenenergie, „Fernsprecher“, „Fernsehen“ und eine mediale Weltpräsenz aller Ereignisse darin: „Die Kriegsführung der Zukunft […] wird dem Auge der ganzen Welt sichtbar sein.“

Was würden wir sagen, wenn wir nach der Welt in hundert Jahren gefragt würden? Sind wir noch so sicher, dass das „Reich der Maschinen“ sich einfach geradlinig weiter entwickelt? Für eine solche Entwicklung sagen Zukunftsforscher heute geradezu den Kollaps des Planeten Erde voraus: Das Weltende als deren Verwüstung durch die menschliche Zivilisation selbst. Insofern ist die expressionistische Zivilisationskritik mehr gewesen als eine Kritik des bürgerlichen Zeitalters, der Vorkriegszeit, der Kriegsdrohung, des Krieges und all jener historischen Momente, welche das frühe 20. Jahrhundert prägten. Der Expressionismus thematisiert – in dieser Radikalität erstmals in der Geschichte der Literatur – eine grundlegende Kritik an der modernen rationalen Zivilisation und der mit ihr verbundenen Gefahr der irrationalen Selbstzerstörung einer Zivilisation selbst.

In diesem Punkte unterscheidet sich der Expressionismus auch grundlegend vom italienischen Futurismus. Dieser ist, wie wir wissen, von der Technik besessen gewesen. Er feiert den Krieg und die Männlichkeit, das Tempo, dem Lärm, den Dynamismus und die Simultaneität der Moderne. Um 1910 spaltet sich so auch die Ästhetikentwicklung in Deutschland zwischen den Technikbegeisterung und Modernekritik, wie sie beispielhaft in Futurismus und Expressionismus auseinander brechen.

Aber fragen wir noch einmal nach der Funktion der apokalyptischen Bilder des Expressionismus. Sie haben zweifellos eine warnende Funktion, sie sind Warnutopien, auch wenn ihre Stimme – so zur Thematik des Krieges – nicht gehört wurde. Auch die Zukunftsbegeisterung und der Fortschrittsglaube waren, wie die Publikation „Die Welt in hundert Jahren“ belegt, in weiten Kreisen der Öffentlichkeit ungebrochen. Diese Einschätzung ist wohl immer noch vorhanden, aber beginnt zu bröckeln mit den in der Tat bedrohlichen Veränderungen im kosmischen Haushalt der Natur. Und diese sind ja nicht von Gott geschickt, sondern selbst gemacht. Der Mensch, aus der Hand Gottes entlassen, ist Herr seiner eigenen Geschichte und muss diese vernünftig steuern. Die Rationalität einschließlich ihrer Anwendungstechnologien ist ein gewaltiges Instrument in der Hand des Menschen, die er vernünftig nutzen muss, wenn die menschliche Kultur eine Überlebenschance haben soll. Somit haben die expressionistischen Apokalypsen immer noch die positive Funktion einer Richtungsanzeige zur Bewahrung von Mensch und Welt.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Vortrag wurde am 2. August 2010 auf dem XII. Kongress der Internationalen Vereinigung für Germanistik (IVG) in Warschau gehalten.