Ein modernes Königsdrama

Jan Decker zeigt Erich Honecker in „Beelitz Heilstätten“ als gestürzten Fürsten

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Gegenwartstheater ist naturalistisch; meist auch da, wo es sich als Avantgarde ausgibt und dabei selten über Bühnentricks hinauskommt, die das moderne Schauspiel bereits seit Jahrzehnten einsetzt. Allenfalls werden sie durch scheinbar neueste Medien aufgepeppt, die es aber auch erst ein paar Jahre nach ihrem ersten Einsatz ins Theater schaffen. Naturalismus heißt, das vermutete Verhalten von Durchschnittsmenschen auf die Bühne zu bringen. Also prügelt die Unterschicht und verhält sich überhaupt recht vulgär, während die Mittelschichtler sich mit Worten verletzen, für die ganz Begriffsstutzigen im Publikum aber manchmal ebenfalls die Fäuste zu Hilfe nehmen.

Die Herrscherebene dagegen sieht man im Gegenwartstheater kaum jemals. Man hat sie aus dem guten Grund, dass der Einzelne in modernen Strukturen kaum mehr Einfluss habe, von der Bühne verbannt. Freilich – ganz souverän waren die Könige sogar im Absolutismus nur im Ausnahmefall. Wählten frühere Dramatiker die Fürstenebene, so nicht, weil damals alles ganz einfach zu durchschauen war oder der König befehlen konnte, was er wollte. Der Grund war ein ästhetischer: Große Sachen sollten groß verhandelt werden, und tragisch fallen kann nur der, der anfangs oben ist.

Dass Shakespeares Königsdramen immer noch dazu taugen, Gegenwartsfragen auf der Bühne zu verhandeln, sollte dazu anregen, diese Argumente ernst zu nehmen. Neuere Versuche sind selten. Neben vollendeten Beispielen des Genres von Peter Hacks finden sich satirische Verkleinerungen wie Friedrich Dürrenmatts „Romulus der Große“ oder ein dumpfes Blutfest wie in Botho Strauss’ „Ithaka“. Der 1977 geborene Jan Decker stellt diesen Werken nun einen ganz eigenen Ansatz an die Seite. Er wählt sich eine auf den ersten Blick kaum geeignete Hauptperson, nämlich den wegen seiner vermeintlichen Alltäglichkeit bespöttelten Erich Honecker; und er wählt eine Situation, in der der einstmals Mächtige kaum mehr handeln kann, sondern 1990/91 als Flüchtling im sowjetischen Hospital Beelitz darauf warten muss, was die historischen Sieger gegen ihn unternehmen.

„Beelitz Heilstätten“ umfasst einen „tragischen Monolog“ und ein „komisches Nachspiel“. Beim attischen Fest lag der Akzent auf der Tragödie, und erst am vierten Tag gab es was zum Lachen. Hier jedoch wirkt der Monolog wie ein Vorspiel zur Hauptsache.

Das Monodram will sorgsam motiviert sein: Warum spricht da einer so lange, mit welchen Ziel und zu wem überhaupt? Der „Erste Mann“, der auch ohne das Umschlagbild des Bandes eindeutig als Honecker zu dechiffrieren wäre, spricht ein „hohes Gericht“ an – doch wäre, was er sagt, kaum geeignet, westdeutsche Juristen zu beeindrucken. Auch ist der Inhalt nicht immer so respektvoll wie es der Ton suggeriert. Im Kern handelt es sich um eine Lebensbeichte, deren Adressat vielleicht auch die Bäume sind, zwischen denen der „Erste Mann“ noch spazierengehen kann. Die einzelnen Abschnitte sind drei Zeitschichten zugeordnet: Jugend und Kampf gegen die Nazis – Mauerbau – Sturz und Verfolgung, wobei auch Erfahrungen aus der späteren Inhaftierung angesprochen sind.

Will man eine gute Stunde lang den Floskeln zuhören, die ein Funktionär absondert? Natürlich nicht. Decker widersteht der Versuchung, die Verlautbarungssprache der DDR zu parodieren, sondern erhöht seine Figur ins historisch Wesentliche. Sein „Erster Mann“ ist so lebenszugewandt, bewusst und energisch, wie man es wohl wirklich sein musste, um im Nazi-Deutschland Widerstand zu leisten, an zehn Jahren Zuchthaus nicht zu zerbrechen und in einem neuen Staat aufzusteigen. Honecker erscheint als genussfroh, zumal den Frauen zugewandt, dabei sensibel und fast zu weich. Das ist notwendig für die Gattung: Ein „Tragischer Monolog“ braucht eine große Persönlichkeit.

Kernpunkt aber ist das Verhältnis zum Vorgänger Walter Ulbricht, der den orientierungslosen Haftentlassenen nach 1945 mit Aufgaben versorgte, ihm den Mauerbau von 1961 befahl und für die erfolgreiche Aktion die Anerkennung aussprach. Der Mentor wurde gestürzt, im Namen des Sozialismus: „Wir entfernten uns, möchte ich sagen, von dem Anspruch, der erste Arbeiterstaat auf deutschem Boden zu sein. Unter ihm wurden wir zu einer großen Planungsbehörde, aber die Menschen hielten kaum etwas in den Händen.“ Der menschenfreundliche Ansatz, endlich ein wenig Konsum zu erlauben, führte zur Überschuldung des Staats, in der Folge zu Einschränkungen und zur Macht der Stasi, zuletzt zur Niederlage, die der „Erste Mann“ nicht begreift: Alles sei doch so gut gegangen, und plötzlich ging nichts mehr.

Decker braucht das sprachliche Niveau seines Helden, um dessen Scheitern zu gestalten. Würde ein dummer und machthungriger Karrierist einen Führungsposten ergaunern, der ihn überfordert, dann wäre das nicht tragisch, sondern Pech für die Geführten. Das sozialistische Ziel, das mit ungeeigneten Mitteln angestrebt wird, die wohlbegründete Revolte gegen den zuletzt doch überlegenen Vorgänger – daraus entsteht dramatische Spannung. Der „tragische Monolog“ könnte leicht aufgeführt werden: Eine Figur redet aus klarem Grund, mit klarem Wissen, doch notwendig scheiternd.

Problematischer ist das „komische Nachspiel“. Wieder vermeidet Decker jeden Naturalismus. Meist sprechen seine Figuren in aufs Äußerste verknappten Formeln. Zuweilen verlegen sie sich auf Verse; sich ihrer Rolle bewusst, reflektieren sie noch die eigene Sprachebene. Das ist reizvoll, und viele der scharfen Repliken haben tatsächlich eine komische Wirkung. Dabei vermeidet Decker jeden schenkelklopfenden Brachialhumor. Die Komik dieses „Nachspiels“ verlangt höchste Aufmerksamkeit.

Auch liegt in den diplomatischen Verwicklungen darum, ob der „Erste Mann“ im Exil oder vor Gericht landet, schließlich im Weg durch die dantesken Schichten einer „sozialistischen Unterwelt“ durchaus Bühnenpotential. Allerdings schöpft Decker dieses Potential durch allzu große Konzentration nicht aus: Die Situation ist kaum exponiert, abstrakte Rollenbezeichnungen wie „Zweiter Mann“ und „Dritter Mann“ erschweren die Orientierung. Lesend weiß man nicht immer, zu welchem Zweck da gerade mit glänzenden Sätzen gefochten wird; ob das bei einer Aufführung klarer wird, wäre zu erproben.

Ein „Nachspiel“ ist der zweite Teil des Bandes auch aus einem weiteren als einem nur formalen Grund. Decker wählt einen Zeitpunkt, zu dem historisch alles entschieden ist, der Konflikt darum allenfalls – wie schon im tragischen Monolog – im Inneren des Verlierers stattfinden kann. Das ist in der Genretradition nicht ganz neu: Ein Märtyrerdrama wie etwa Gryphius’ „Carolus Stuardus“ beruhte schon im 17. Jahrhundert darauf, dass der gestürzte und gefangene König seine Haltung beweisen konnte. Allerdings stellt diese Variante des Königsdramas besondere Anforderungen daran, die Spannung zu halten. Decker gelingt das nicht durchgängig; doch der Ansatz, mit großen sprachlichen Mitteln große Fragen zu behandeln, ragt aus der zeitgenössischen Theaterproduktion heraus und weckt Spannung auf die nächsten Werke dieses Autors.

Titelbild

Jan Decker: Beelitz Heilstätten. Tragischer Monolog und komisches Nachspiel.
Verlag André Thiele, Mainz am Rhein 2009.
75 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783940884183

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch