Eine Dichterjugend in Czernowitz

Edith Silbermann erinnert sich an ihren Schul- und Studienfreund Paul Celan

Von Herbert FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Fuchs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit 1993, dem Jahr, in dem der Briefwechsel zwischen Paul Celan und Nelly Sachs veröffentlicht wurde, erschienen in meist ein- bis zweijährigen Abständen weitere Publikationen von Briefen Celans. Die Veröffentlichung der Briefe zwischen ihm und Gisèle de Lestrange, Zeugnisse ihrer großen Liebe, die aber auch von Celans seelischen Verletzungen durch die Goll-Affäre, seinen Ängsten wegen der aufkommenden antisemitischen Stimmung in Deutschland und seiner psychischen Erkrankung handeln, ragt aus der Zahl der Briefwechsel-Publikationen heraus. In den letzten Jahren erregten zwei weitere Bücher die Aufmerksamkeit der Celan-Leserschaft: ein umfangreicher Band mit dem Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan (1948-1967) und – als kleine Sensation in 2010 – ein Buch von Brigitta Eisenreich. Kaum einem Celan-Leser oder Celan-Forscher war der Name der Autorin geläufig. Ihr Erinnerungsband erst machte ihre neunjährige (1952-1961) Liebesbeziehung zu Celan einer breiten Öffentlichkeit bekannt.

In dieser „Vierecksbeziehungsgeschichte“ der 1950er-Jahre – Celan, Lestrange, Bachmann, Eisenreich – spielte Edith Silbermann, eine der Herausgeberinnen der vorliegenden „Zeugnisse einer Freundschaft“, keine Rolle, besser: keine Rolle mehr; denn auch Edith Silbermann war einmal Jugendfreundin und Geliebte von Paul Celan. Sie wuchs mit Paul Antschel, wie Celan damals noch hieß, in Czernowitz auf, das zur sowjetischen, später rumänischen Bukowina gehörte und jetzt in der südlichen Ukraine liegt. Czernowitz war das politische und kulturelle Zentrum der Bukowina, besaß ein Gymnasium, eine Universität, mehrere Theater und – darauf war man stolz – viele Buchläden. Es war eine Vielvölkerstadt mit etwa 80.000 Einwohnern im Jahr 1941, mehr als die Hälfte davon Juden.

Edith Horowitz – so lautete ihr Mädchenname – und Paul Antschel gingen ab 1933/34 zur selben Schule und freundeten sich miteinander an. Der junge Paul Antschel besuchte Ediths Elternhaus häufig, auch wegen der umfangreichen Bibliothek, die Ediths Vater besaß und die auf den lesehungrigen Gymnasiasten einen unwiderstehlichen Reiz ausübte. Mehrere der Jugendgedichte entstanden in dem Bibliothekszimmer, wie Edith Silbermann berichtet.

Die beiden Jugendlichen verliebten sich ineinander. Allerdings standen die Jahre ihrer Freundschaft und Liebe unter einem Unglücksstern. Ihnen als jüdischen Bewohnern der Stadt drohten, nachdem die deutschen Truppen Czernowitz 1941 besetzt hatten, Deportation und Vernichtung. Celans Eltern kamen so bereits 1942 ums Leben. Paul entging einer Verhaftung nur durch Zufall. Dass er, anders als seine Eltern und wie es ihm bestimmt zu sein schien, nicht umkam, sondern, nach Arbeitslager und Zwangsarbeit, den Krieg überlebte, hinterließ eine seelische Erschütterung, von der er sich ein Leben lang nicht befreien konnte und die in vielen seiner Gedichte zu spüren ist.

Von diesen zuerst unbeschwerten und dann immer schrecklicheren und bedrohlicheren Jahren in Czernowitz mit Ghetto, Zwangsarbeit, Deportation, Verfolgung und Vernichtung der Juden handelt Edith Silbermanns Erinnerungsbuch. Sie hat es zusammen mit der Germanistin Amy-Diana Colin, einer Freundin der Familie, herausgegeben. Kurz vor Fertigstellung der Publikation starb sie, siebenundachtzigjährig, in Düsseldorf.

Das Buch macht, wenn man darin blättert, einen uneinheitlichen Eindruck. Erinnerungstexte von Edith Silbermann stehen neben erläuternden Ausführungen der Herausgeberin Amy-Diana Colin, einige wenige Briefe Celans neben zweiundzwanzig seiner Gedichte, Fotos von Celan, Edith Horowitz/Silbermann und Jugendfreunden neben ausführlichen editorischen Kommentaren und Hinweisen zu den Gedichten. Alle Gedichte, Geschenke Celans an seine Jugendfreundin, sind bereits an anderen Stellen veröffentlicht worden. Auch die Erinnerungstexte von Edith Silbermann, die um die Vorkriegsjahre und die Kriegsjahre in Czernowitz und um ihre Freundschaft mit dem jungen Paul Antschel kreisen, enthalten nichts wirklich Neues.

Dennoch eröffnet das Buch, gerade weil es vielfältig angelegt ist, dem an Celan Interessierten Einblicke in dessen frühes Leben in Czernowitz und von daher auch – in Ansätzen – Zugänge zu einem Teil seines lyrischen Werks. Paul Antschel – der Name Celan ergab sich aus dem Anagramm der rumänischen Schreibweise seines Familiennamens, aus Ancel, – und seine Freundin Edith Horowitz, die später den Namen ihres Mannes Jacob Silbermann annimmt, gehören zu einem Kreis gebildeter, wissensdurstiger, literarisch interessierter und ambitionierter Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums. Sie treffen sich zu politischen Diskussionsrunden und engagieren sich für sozialistische Ideen. Mit großer Begeisterung lesen sie Rainer Maria Rilke, Hermann Hesse, die Expressionisten Georg Heym und Georg Trakl, entdecken die Literatur des neunzehnten Jahrhunderts, rezitieren aus Rilkes „Cornet“, den „Duineser Elegien“ und „Sonetten an Orpheus“ und begeistern sich für Shakespeares Dramen.

Es muss für die jungen Leute, vor allem für Paul Antschel, trotz der zunehmenden Unterdrückung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung in Czernowitz auch eine Zeit des geistigen Aufbruchs und kühner und hoffnungsvoller literarischer Pläne gewesen sein. Edith Silbermann und ihre Mitherausgeberinnen Colin verstehen es in ihren Texten, die Gegensätze zwischen der Hoffnung der jungen Menschen auf eine Zukunft mit Büchern und intellektuellen Herausforderungen und dem Leben in der Wirklichkeit der Kriegsjahre aus Antisemitismus und der alltäglichen Bedrohung durch die deutsche und rumänische Besatzung den Lesern nahezubringen. Es hat etwas Berührendes und Verstörendes, die Fotos von den Mädchen und jungen Frauen und den Jungen und jungen Männern, die sie in der Klasse oder in Gruppen am See zeigen, zu betrachten und im gleichen Zusammenhang von ihrem Leben im Czernowitzer Ghetto, von ihren Deportationen in die Konzentrationslager im Osten, von den Arbeitslagern und der ständigen Angst um ihr Leben zu lesen.

Das Buch ist, wie es der Titel ankündigt, auch die Geschichte der Freundschaft und Liebe zwischen Edith Horowitz und Paul Antschel, die nicht ohne Enttäuschungen, Zurückweisungen und Verletzungen bleibt. Beide überleben, mit Glück und durch Zufall, die schlimmen Kriegsjahre. Ihre Wege trennen sich danach bald. Der junge Celan freundet sich mit Ruth Kraft an, geht nach Bukarest und reist einige Zeit später, ohne es Edith Horowitz zu sagen, von dort heimlich nach Wien und 1947 weiter nach Paris. Edith Silbermann bleibt als Schauspielerin und Rezitatorin in Bukarest. Sie und ihr Mann dürfen erst 1963 über Österreich in die Bundesrepublik Deutschland übersiedeln. Sie nimmt, sobald sie im Westen ist, Kontakt mit Paul Celan, der längst bekannt und berühmt ist, auf, der ihr und ihrem Mann auch zu helfen versucht. Sie tauschen Briefe aus und Celan besucht sie in Düsseldorf. Die dreizehn Briefe im letzten Drittel des Buches dokumentieren diese Kontaktaufnahmen, nachdem beide siebzehn Jahre lang nichts voneinander gehört haben.

Edith Silbermann bemühte sich in den 1970er- und 1980er-Jahren, die frühen Gedichte Celans, die er ihr geschenkt, manchmal in ihrem Beisein in der Bibliothek ihres Vaters geschrieben hatte, und die Briefe aus den 1960er-Jahren zu veröffentlichen. Der Suhrkamp Verlag wies sie immer wieder ab, ja machte ihre „persönliche Feindin“ Ruth Kraft 1983 zur Herausgeberin der frühen Celan-Gedichte. So spricht dieses Buch zwischen den Zeilen auch immer wieder von der Verbitterung einer Frau, die den jungen Celan sehr gut kannte, der es aber lange Zeit verwehrt blieb, ihr Wissen und ihre Kenntnisse weiterzugeben.

Für die Celan-Forschung sind sicherlich die 22 Gedichte aus dem Besitz der Jugendfreundin Edith Horowitz aus den Jahren bis 1945 und die 13 Briefe aus den Jahren 1963 bis 1965 wichtig. Die Herausgeberin Amy-Diana Colin hat große Sorgfalt darauf verwendet, die Briefe mit allen notwendigen Anmerkungen zu versehen. Die Briefe verweisen an mehreren Stellen auf Celans schwierige psychische Situation („ich habe eine schlechte Zeit, schon seit längerem“) und schildern auch die Schwierigkeiten ehemaliger Czernowitzer Juden, die den Holocaust überlebt haben, im so genannten „freien Westen“ Fuß zu fassen und eine kulturelle Identität zu finden: „Vorderhand sind wir nur ungebetene Zaungäste an den Toren dieser Welt.“

Vorbildlich werden die Gedichte, deren Handschriften ebenfalls abgedruckt sind, in einen größeren Editionszusammenhang gestellt, kommentiert und erläutert. Amy-Diana Colin geht ausführlich auf ihre Entstehung, ihre bisherigen Abdrucke und die Varianten, die oft über Satzzeichen hinausgehen, ein. Die historisch-kritische Ausgabe der Celan-Gedichte, an der seit vielen Jahren gearbeitet wird, wird dadurch möglicherweise Ergänzungen und Korrekturen vornehmen können. Hilfreich ist auch der ausführliche Apparat zu allen Personen, die in der der Biografie Paul Celans eine Rolle spielen.

Für die Celan-Leser sind vor allem die Gedichte aus den Anfängen des Lyrikers interessant. Sie alle liegen längst gedruckt vor, zum Beispiel in dem von Ruth Kraft besorgten Sammelband „Gedichte 1938-1944“. Einige von ihnen erschienen 1948 in dem Erstdruck von „Der Sand aus den Urnen“. Celan zog den Band später zurück und übernahm Gedichte daraus in „Mohn und Gedächtnis“ (1952). Keinen der Texte, die zum Nachlass von Edith Silbermann gehören, befand er dabei für veröffentlichungswürdig.

Fast alle diese Gedichte, die Celans lyrische Anfänge dokumentieren, haben feste Strophenformen und Reime. Sie tragen Titel wie „Abend“, „Am Brunnen“, „Herbst“, Spätsommer“ oder „Rosenschimmer“, sind zum Teil romantisch-expressiv und scheinen immer wieder von privaten Erlebnissen, auch Liebeserfahrungen, angestoßen worden zu sein. Aber, das wird in diesen ersten Gedichten deutlich, alle persönlichen Erfahrungen werden in den Texten durch Celans Gespür für Sprache und Form auf eine Ebene gehoben, in der das Private einen über alles Zufällig-Persönliche hinausgehenden Wahrheitsanspruch erhebt und diesen auch sprachlich und formal einlöst. Davon zeugen Ausdrücke und Bilder – „Taucht in dein schwarzes Auge meine Seele“ –, die auf den großen Lyriker der 1950er- und 1960er-Jahre vorausweisen. In vielen Gedichten ist bereits etwas da von der inneren Zerrissenheit des lyrischen Ich, eines Anflugs von Verzweiflung und einer übersensiblen Hellsichtigkeit den Formen des Krieges gegenüber. So spricht Celan in dem Gedicht „Abend“, das Amy-Diana Colin auf 1936 bis 1938 datiert, von der „täuschenden Welt“ und Worte wie „schwarz“ oder „finster“ durchziehen die Texte wie ein Leitmotiv und lassen die Brüchigkeit von Ich-Du-Beziehungen und die Gefährdung und die Verlorenheit des Ich ahnen.

In einem Text ohne Titel, zu Beginn des Jahres 1943 verfasst, nachdem Celan vom Tod seiner Mutter in einem Konzentrationslager in der Ukraine gehörte hatte, heißt die erste Strophe: „Es fällt nun, Mutter, Schnee in der Ukraine: / des Heilands Kranz aus tausend Körnchen Kummer. / Von meinen Tränen hier erreicht dich keine; / von frühern Winken nur ein stolzer Stummer.“ Das Gedicht endet mit den Zeilen: „Was wär es, Mutter: Wachstum oder Wunde – / versänk ich mit im Schneewehn der Ukraine?“. Vielleicht kann man von solchen Verszeilen und Bildern bereits Linien zu den großen Gedichten der „Niemandsrose“, zu „Psalm“ oder „Radix, Matrix“ etwa, ziehen.

Hier wie dort sind, in unterschiedlicher Ausprägung und sprachlicher Verdichtung, Verstörtheit, Trauer und Erschrecken über den Zustand der Welt als ein Antrieb für Celans Schreiben erkennbar. Edith Silbermann zitiert aus der Erinnerung Sätze aus einem Brief, den Paul Antschel 1938 während einer Zugfahrt durch Deutschland an sie schrieb: „Ich fahre nun durch einen deutschen Birkenwald. Wie sehr ich mich nach dem Anblick dieser Landschaft gesehnt habe, weißt Du, Edith; doch wenn ich über den Wipfeln die dichten Rauchschwaden sehe, graut es mir; denn ich frage mich, ob dort wohl Synagogen brennen oder gar Menschen ….“.

In dem Wissen um die Shoah gründet Celans tief im Inneren seiner Seele angelegte Trauer. Ingeborg Bachmann hat das in einem ihrer frühen Brief an den 29-jährigen Paul Celan erkannt: „Ich sehe mit viel Angst, wie Du in ein großes Meer hinaustreibst, aber ich will mir ein Schiff bauen und Dich heimholen aus der Verlorenheit.“ Edith Silbermanns Erinnerungsbuch handelt von den Wurzeln und den Anfängen dieser „Verlorenheit“.

Titelbild

Amy-Diana Colin / Edith Silbermann (Hg.): Paul Celan - Edith Silbermann. Zeugnisse einer Freundschaft. Gedichte, Briefwechsel, Erinnerungen.
Mit CD-ROM.
Wilhelm Fink Verlag, München 2010.
366 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783770548422

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