Stationen der Thomas Mann-Forschung

Der Thomas Mann-Band der Serie „Neue Wege der Forschung“ dokumentiert drei Jahrzehnte Forschungsgeschichte

Von Christian RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Orientierung im Forschungsdickicht zu bieten, scheint bei keinem deutschen Autor des 20. Jahrhunderts so sehr geboten zu sein wie bei Thomas Mann. Wenn selbst ein seit Jahrzehnten ausgewiesener Kenner der Mann-Forschung wie Hermann Kurzke in seinem Arbeitsbuch „Thomas Mann. Epoche Werk Wirkung“ einräumt, ein perfekter Überblick über die Forschungsliteratur zum Werk des Lübeckers sei unmöglich geworden, dann mag das verdeutlichen, wie verloren sich der durchschnittliche Literaturwissenschaftler oder gar der durchschnittliche Leser zuweilen vorkommen muss.

Grundidee der Reihe „Neue Wege der Forschung“ ist es, eben diese Orientierung zu vermitteln und Forschungsgeschichte nachzuzeichnen: Es geht darum, die wirklich essentiellen, folgenreichen und wegweisenden Wendemarken des Diskurses über einen Autor zu skizzieren. Im Idealfall wird dem Leser durch das Versammeln repräsentativer methodischer Ansätze ein Spektrum an wissenschaftlichen Zugängen an die Hand gegeben und so en passant zugleich eine Einführung in wesentliche Facetten des Werkes vermittelt. Dieser wahrlich nicht einfach einzulösende Anspruch wird in dem von Heinrich Detering und Stephan Stachorski (beide sind Mit-Herausgeber der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe der Werke Manns) herausgegebenen Band der Reihe zum Werk Thomas Manns in höchst gelungener Weise umgesetzt.

Versammelt werden dreizehn Beiträge aus der Zeit zwischen 1977 und 2004, wobei der überwiegende Teil aus der zweiten Hälfte dieser Zeitspanne stammt. Auffällig ist, dass sich das Gros der Beiträge zwar überwiegend auf einen Einzeltext Manns fokussiert, jedoch auch Überlegungen zu dem behandelten Themenkomplex in anderen Texten Manns anstellt und so die generelle Bedeutung für das Gesamtwerk zumindest umreißt. Gut nachvollziehbar ist dies etwa an Eckhard Heftrichs Beitrag zum Doktor Faustus, dem ältesten Aufsatz des Bandes. Die Analyse des späten Romans streicht exemplarisch die generelle Bedeutung des indirekt autobiografischen Schreibens und der chiffrenartigen Verweise auf das eigene Leben im Werk Thomas Manns heraus, das – wie der Autor es ausdrückte – Suchen nach den „diskreten Formen und Masken […] in denen ich [Thomas Mann] mit meinen Erlebnissen unter die Leute gehen kann.“ Obwohl die Lektüre dieses Aufsatzes auch zeigt, wie radikal sich in den letzten gut 30 Jahren der Wissenschafts-Jargon verändert hat, sind Heftrichs Überlegungen und die Zusammenhänge, die er etwa zwischen der Konzeption des Doktor Faustus und des Zauberbergs herstellt, auch heute noch mit Gewinn zu lesen.

Diese Verbindung aus spezifischer Betrachtung eines Einzeltextes und dem Skizzieren größerer Werk-Zusammenhänge findet sich auch in den anderen Beiträgen: So verfolgt Hans Wyslings Analyse des Narziss-Motivs in den Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull etwa auch Aspekte des Tod in Venedig und Lotte in Weimars und Karl Werner Böhms vorwiegend anhand der Personenkonstellation vorgenommene Analyse der homosexuellen Konstellationen im Zauberberg lässt sich durchaus auch als erster Überblick für diesen Themenstrang bei Thomas Mann überhaupt lesen.

Mit zwei fulminanten Texten von Jan Assmann und Manfred Dierks ist der Werkkomplex des Josephromans vertreten, und so wird der Entwicklung der letzten Jahrzehnte Rechnung getragen, die Joseph-Tetralogie als das eigentliche Hauptwerk Thomas Manns zu begreifen. Als im Nachhinein bahnbrechend erscheint besonders Jan Assmanns Beitrag „Zitathaftes Leben“, der darauf insistiert hat, Thomas Mann endlich auch als einen der großen Forscher und Theoretiker des Mythos im 20. Jahrhundert zu etablieren. Wie Assmann sehr überzeugend darlegt, hat Thomas Mann mit seiner Darstellung kultureller mythischer (Vor)Prägungen sowie der Darstellung des Wurzelns von individuellen Biografien in der Tiefe der Zeit wie kaum ein anderer Autor in seinem Werk eine eigenständige Analyse der Funktionsweisen des kulturellen Gedächtnisses geliefert.

Fast alle Beiträge – zu nennen sind etwa auch Ruth Klüger, Horst-Jürgen Gerigk und einmal mehr Hermann Kurzke – bieten eine kurzweilige, spannende Lektüre und sind in gut lesbarem Stil gehalten. Als guter Schachzug der Herausgeber erweist es sich auch, bei den Endnoten zuweilen straffend eingegriffen zu haben. Gerade bei den etwas betagteren Aufsätzen muss der heutige Leser nicht jeden seinerzeitigen Querverweis zur Kenntnis nehmen. Die erfolgte Straffung des Endnotenapparates ist nützlich und geboten und würde auch anderen Bänden der Reihe gut zu Gesicht stehen.

Wer als Herausgeber vor der Aufgabe steht, aus der Summe der Mann-Forschung nur 13 Beiträge auszuwählen, kann es wohl nie jedem recht machen. Zwei der Beiträge fallen aus unterschiedlichen Gründen etwas aus dem Rahmen.

Dieses betrifft zum einen Terence James Reeds Deutung von Tod in Venedig. Reeds Bedeutung für die Mann-Forschung ist unstrittig, und sicherlich war es richtig, diesen enorm wirkungsmächtigen Text, den Mann trotz des schmalen Umfangs stets zu seinen Hauptwerken gerechnet hat, nicht einfach zu übergehen. Und dennoch: So bedeutsam Reeds Kommentare in den frühen 1980er-Jahren gewesen sind, so sehr wirken sie aus heutiger Perspektive, um mit Thomas Mann zu sprechen, „von historischem Edelrost überzogen“. Ob es nun um das Verhältnis zwischen der Person Manns und dem Künstler Aschenbach oder um die Aufschlüsselung des mythologischen Subsystems geht: Diese Aspekte wirken heute ziemlich ausdiskutiert und sind zwar von historischem, aber eben auch nur noch von historischem Interesse. Hier wäre vielleicht die Auswahl eines neueren Theorie-Ansatzes interessanter gewesen.

Ebenfalls nicht vollends einleuchten will die Auswahl des (als Einzeluntersuchung überaus interessanten) Textes von Elisabeth Galvan zu Manns Drama Fiorenza, da dieser im Vergleich zu den anderen Ansätzen sich einem eher weniger zentralen Werk Manns widmet und sich hier zudem auch die vorgenommene Kürzung des Beitrages recht deutlich bemerkbar macht. Gerade angesichts des sehr beschränkten Raumes wäre wohl ein Beitrag zu einem der Hauptwerke Manns (so fehlen etwa die Buddenbrooks komplett) nachvollziehbarer gewesen als das Aufgreifen von Manns einzigem Drama.

Angesichts der ganz hervorragenden Auswahl der Texte sind diese beiden Einwände jedoch marginal. Sie ändern nichts daran, dass der Band von Detering und Stachorski einen profunden Einstieg in die Forschungsgeschichte bietet und Lust macht – sei es zum wiederholten oder zum ersten Mal – sich in die Mann-Forschung zu vertiefen.

Titelbild

Heinrich Detering / Stephan Stachorski (Hg.): Thomas Mann. Reihe: Neue Wege der Forschung.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2008.
240 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783534191017

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