Heute wird gebohnert, morgen bist du tot

Ingrid Nolls neuer Roman „Ehrenwort“ führt mitten hinein ins deutsche Pflegedilemma

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine saubere Familie, diese Knobels. Opa Willy, seit Jahren verwitwet, bedarf nach einem Oberschenkelhalsbruch der Pflege und zieht aus seinem Dossenheimer Domizil in ein kleines Nest an der hessischen Bergstraße zu Sohn und Schwiegertochter. Die geben ihm nicht mehr viel Zeit und sich den Anschein hehrer Menschlichkeit. Aber allen Prognosen – und stillen Gebeten – zum Trotz kommt der grantige Vorfahr halbwegs wieder auf die Beine. Max, der Enkel, trägt mit einer Vanillepudding-Diät nicht unwesentlich zu dem Genesungswunder bei. Aber er hat auch zwei triftige Gründe dafür, dem Alten Becher auf Becher der leckeren Fertigkost einzuflößen. Denn zum einen ist er nicht ganz unschuldig an dem folgenschweren Sturz des bald 90-Jährigen gewesen – und andererseits spekuliert der lustlose Student darauf, dass der Eifer, mit dem er sich der Pflege des Großvaters widmet, eines Tages goldene Früchte tragen wird. Denn Opa hat sein Leben lang sehr gut verdient, aber immer sparsam gewirtschaftet.

Dagegen haben Harald und Petra – er ein korrupter Tiefbauamtler, sie Buchhändlerin mit anfänglich viel Verständnis für den Schwiegervater, aber wenig Zeit, weil es gilt, einen emsigen Lover in den ohnehin schon stressigen Lebensalltag zu integrieren – immer weniger Freude an der Wiedergenesung Willys. Dass über den Genuss des Gnadenpuddings dessen alte Streitlust wiedererwacht, bringt den Sohn auf die Barrikaden. Und weil der Schwiegervater immer forscher am Rollator über das Parkett saust, bekommt auch dessen Angetraute zunehmend Kopfschmerzen.

Also wird der Rekonvaleszent erst einmal an ein gutes „Kon-Jäckchen“ als die Verdauung förderndes Mittel gewöhnt und dieses dann mit einer Überdosis jenes flüssigen Schlafmittels versetzt, das eigentlich dem nervösen Bauamtsangestellten ruhigere Nächte garantieren sollte. Aber der gar nicht so dumme Anschlag geht gleich zweimal daneben – zunächst kostet er einer Pflegerin das Leben, die Willy todesmutig vor den fatalen Wirkungen des Hochprozentigen beschützen will, und dann erwischt es den unaufmerksamen Harald selbst, der leider nicht mitbekommt, wie der Vater ihre Gläser vertauscht, weil er sich vom Filius um mehr als einen Fingerbreit des bernsteinfarbenen Labsals betrogen fühlt. Von da an wird gebohnert, was das Wachs hält.

Erfahrene Leser dürften längst bemerkt haben, dass wir uns mit Willy und Harald, Petra und Max – zum erweiterten Figurenkreis des Buches zählen weiterhin die lesbische Tochter der Knobels, Mitzi, ein paar ins Haus entsandte Pflegekräfte mit teils dämonischer, teils erotischer Ausstrahlung sowie zwei Kleinkriminelle und ein Kriminalkommissar – inmitten eines Romans von Ingrid Noll befinden. „Ehrenwort“ heißt der und es ist bereits ihr zehnter. Leichthändig und schwarzhumorig wie die meisten seiner Vorgänger führt er tief hinab in die Abgründe des Zwischenmenschlichen. Dass die Familie nicht unbedingt jener oft beschworene Ort vertraut-liebevollen Miteinanders, gegenseitiger Hilfe und verlässlichen Beistands gegen alle Zumutungen der Welt sein muss, hat man jedenfalls schnell begriffen. Wie alleingelassen sich jene kleinste gesellschaftliche Zelle häufig in extremen Situationen von den Institutionen des Staates fühlen kann, schwingt als bitterer Unterton zusätzlich mit. Und Noll hat durchaus eigene Erfahrungen mit dem deutschen Pflegesystem und seinen Tücken samt den Zumutungen, vor die es die dem Pflegefall Nahestehenden nur allzu häufig stellt – 106 Jahre alt wurde die Mutter der Schriftstellerin, ohne je ein Heim von innen gesehen zu haben.

In „Ehrenwort“ jedenfalls hilft unterm Strich auch alles Bohnern nichts. Stets sind es die Falschen, die auf den glatten Dielen im Hause Knobel ins Straucheln geraten. Und deshalb kann der Roman fast so etwas wie ein Happy-End anbieten. Denn Willy, der ehemalige wissenschaftliche Bibliothekar, Sprachkritiker und Liebhaber des Lateinischen, stirbt friedlich in seinem Bett, während es ein paar Ganoven und Erpresser, die zufällig zwischen die zu allem bereiten Verwandten und ihren nicht unterzukriegenden Ahn geraten, so brutal wie endgültig aus der Kurve trägt. Gerechtigkeit kann also doch von dieser Welt sein – auch wenn sie manchmal seltsame Umwege beschreitet.

Titelbild

Ingrid Noll: Ehrenwort. Roman.
Diogenes Verlag, Zürich 2010.
336 Seiten, 21,90 EUR.
ISBN-13: 9783257067606

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