Abgründe, Monstrositäten und Metaphysik

Markus Gasser lüftet das Geheimnis von Daniel Kehlmanns eleganter Prosa und entdeckt Ungeheuerliches

Von Philipp HammermeisterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Philipp Hammermeister

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sich als Kritiker mit Daniel Kehlmann zu beschäftigen ist riskant, denn zu Kehlmanns gelungensten Gestalten gehören Kritikerfiguren, die grandios bei dem Versuch scheitern, ein wenig vom Glanz ihres Untersuchungsobjektes zu profitieren. Im Duell Kunstschaffender gegen Kunstkritiker entscheidet sich Kehlmann stets für den Künstler und gegen den angeblich parasitären Kulturbetrieb der Journalisten und Literaturwissenschaftler. Der österreichische Literaturwissenschaftler und -kritiker Markus Gasser hat sich davon aber glücklicherweise nicht abschrecken lassen und liefert mit seiner so lesenswerten wie gescheiten Studie zu „Daniel Kehlmanns Geheimnis“ die erste Monografie zum bisherigen Gesamtwerk des gerade einmal 35-jährigen Autoren.

Dass dessen so zugängliche wie unterhaltsame Texte überhaupt ein Geheimnis enthalten könnten, dürften einige Kritiker mit dem Verweis auf Kehlmanns großen Publikumserfolg und die Gefälligkeit seiner Prosa bezweifeln: Was derart angenehm zu lesen sei und sich so gut verkaufe, könne ja weder rätselhaft noch große Literatur sein. Für Gasser jedoch steht fest, dass sich unter der leicht konsumierbaren Oberfläche der Kehlmann’schen Texte stets eine zweite Geschichte voller Abgründe, Monstrositäten und Metaphysik verbirgt – und für ihn ist es gerade diese Kombination aus Unbeschwertheit und Bedrohung, aus Heiterkeit und Furcht, die Kehlmanns Erfolg ausmacht: „Ohne die Leichtigkeit wäre, was darunter lauert und flüstert, nicht zu ertragen.“ Diesem Jenseitigen, dem Titel gebenden „Königreich im Meer“ aus Vladimir Nabokovs Kurzgeschichte „Ultima Thule“, gilt Gassers detektivische Spurensuche durch das erzählerische Gesamtwerk Kehlmanns, angefangen bei den frühen Erzählungen aus „Unter der Sonne“ bis hin zu den großen Erfolgen von „Die Vermessung der Welt“ und „Ruhm“.

„Was ist Wirklichkeit und wer steckt dahinter?“ ist Gasser zufolge Kehlmanns Leitfrage, an der sich auch seine Figuren abarbeiten müssen. Immer wieder gibt es Szenen in Kehlmanns Erzählungen, an denen die klar definierten Grenzen von Diesseits und Jenseits und von Wirklichkeit und Fiktion durchlässig werden. Seine Figuren bewegen sich zwischen wissenschaftlicher Ratio, feierlichem Gottesglauben und irrealer Geisterfurcht. Ständig begleitet sie dabei der Verdacht, dass in jedem noch so klaren Gedanken immer schon der Keim des Wahnsinns steckt und dass der Schöpfer ihrer Welt mit ihnen ein böswilliges, weil falsches Spiel treibt. Sie selbst fordern die Leser damit auf, nichts und niemandem in der Erzählung vorbehaltlos zu vertrauen – am wenigsten dem Erzähler selbst. Hier setzt Markus Gasser mit seiner Studie an. Er spürt den Falltüren in Kehlmanns Prosa nach, die von der trügerischen Oberfläche der eingängigen und schnörkellosen Sprache in ein komplexes und verzweigtes System voller Ungewissheit und Unzuverlässigkeit führen.

Beispielhaft hierfür ist seine Analyse des frühen Romans „Beerholms Vorstellung“, in der der Illusionskünstler Artur Beerholm seine Fähigkeiten so perfektioniert, dass bald auch für ihn nicht mehr zu unterscheiden ist, ob er nun eigentlich gerade zaubert oder nicht. „Ich habe die Grenze zwischen dem Traum- und dem Alptraumreich meiner Phantasie und der Wirklichkeit, der sogenannten, immer bemerkenswert durchlässig gefunden“ lässt Kehlmann seinen jungen Magier sagen und rät damit seinen Lesern zu erhöhter Wachsamkeit.

Markus Gasser geht solchen Hinweisen auf eine Doppelbödigkeit der Geschichte konsequent nach und entblößt Schritt für Schritt nicht nur verschiedene Lesarten der Erzählung, sondern gleichzeitig auch ihre ungeahnten theologischen und philosophischen Hintergründe. Zwar kann (und will) auch Gasser nicht abschließend klären, was von Beerholms Erzählung nun tatsächlich passiert und was bloß seiner Phantasie entsprungen ist, doch zeigt seine genaue Lektüre, wo man ansetzen muss, um sich die Erzählwelten Daniel Kehlmanns in ihrer ganzen Fülle zu erschließen.

So eröffnet Gasser den Lesern spannende Einblicke in das Bau- und Funktionsprinzip von Kehlmanns Prosa. Er deckt wiederkehrende Motive und Querverweise in seinen Werken auf und verortet diese vor dem Horizont einer literarischen Tradition, die von Vergil über Henry James und García Márquez bis zu Vladimir Nabokov reicht – und die nur erahnen lässt, welche Anspielungen und Parallelen sich noch in den Erzählungen und Romanen finden ließen. „Das Königreich im Meer“ ist somit auch eine Verteidigung von Kehlmanns Werk vor einer neiderfüllten Literaturkritik und dem „billigen Feuilletonistenjargon“, welcher diese Literatur nur deshalb als „zu leicht“ verurteilen kann, weil seine Lesart an ihrer Oberfläche verharrt.

Gassers größte Leistung aber ist es, sich an Kehlmanns „Grazie und Leichtigkeit“ orientiert zu haben. Dank dieser „lightness of touch“ gelingt es ihm, ein unterhaltsames und schlaues Buch zu präsentieren, dass stilistisch seinem Untersuchungsgegenstand in Nichts nachsteht. Dass manche Fußnote dabei eher dem Nachweis der eigenen Belesenheit, als einer hilfreichen Einsicht in Kehlmanns Schreibweise dient, sieht man dem Autor gerne nach. Schließlich eröffnet sich dieser humorvolle und pointierte Essay nicht nur dem engen Kreis der Literaturwissenschaft, sondern gleichzeitig auch dem breiten Publikum, das an Kehlmanns Texten ja gerade diese Unbeschwertheit einer gescheiten Unterhaltung schätzt. So lässt sich abschließend sagen, dass einem die Gasser-Lektüre am Ende ebensoviel Spaß gemacht hat, wie diesem offensichtlich die Kehlmann-Lektüre – und ein größeres Kompliment dürfte es für den Autor wohl kaum geben.

Titelbild

Markus Gasser: Das Königreich im Meer. Daniel Kehlmanns Geheimnis.
Wallstein Verlag, Göttingen 2010.
159 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783835306172

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