Zehn Gesichter aus Shinjuku

Franka Potente hat einen Band mit „Stories“ vorgelegt

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Japaner verbeugt sich tief, geht zum Tempel, sagt meist nur wenig, erträgt viel, lächelt zuweilen und am liebsten möchte er fliehen, aus seinem Leben oder zumindest aus Japan. Ein geborener Fatalist. Und ein geborenes Kulturschockopfer, nur wenig begabt für den Kontakt mit der Welt, nach der er sich manchmal jedoch heftig sehnt. Dieser gebeutelte, traurige Japaner ist ein rührendes Wesen, dem der Westler gerne seine Sympathie schenkt, bevor er kapitulieren muss vor so viel Selbstverleugnung. Das sagt dem deutschen Leser nicht Max Dauthendey (1867-1918) in seiner berühmten Anthologie „Die acht Gesichter am Biwasee“ (1911), sondern Franca Potente (geboren 1974), Schauspielerin und Japanliebhaberin, die mit „Zehn“ 99 Jahre später einen Ausflug nach Tokyo unternimmt.

Die Idee ist gut. Zehn Miniaturen aus der Metropole des Inselreichs, das immer noch fern ist und fasziniert. Einige der kurzen Geschichten erzählen von schicksalhaften Lebenssituationen der älteren und der jüngeren Generation, andere von Begegnungen mit dem Ausland. Als sehr aktuell erweist sich die Episode „Tamago“ (Eierstich), die vom Sterben des alten „Herrn Masamori“ handelt – über das Phänomen des einsamen Alterstodes (kodoku-shi) berichteten in diesen Tagen die Medien. Der Witwer hat nur selten Kontakt zu dem Sohn und seiner Familie. Ein alter Freund gibt dem Besitzer eines Lädchens für traditionelles Schuhwerk, für Zôri-Sandalen, Halt. Sein größter Trost ist jedoch ein „ungarischer Samurai“ aus dem Fernsehen, „Andre, the Giant“, der sich als der Ringpartner von Hulk Hogan herausstellt. Als der Senior erfährt, dass er an Lymphdrüsenkrebs leidet, beschließt er, mittels Kugelfischgift sein Leiden zu verkürzen. Nachdem er seine Dinge geregelt hat, nimmt er eine letzte Mahlzeit ein, Eierstich, um dann in seiner Fantasie mit Andre die Reise ins Jenseits anzutreten.

Einsam ist auch „Frau Michi“ aus der ersten Erzählung „Götterwinde“, die ein kleines, nicht mehr lukratives Geschäft für Fächer führt. Ihre Eltern sind verstorben, sie hat die Gelegenheit für eine Heirat verpasst. Mit etlichen der Fächer aus ihrem Sortiment verbindet die Vierzigjährige intimste Erinnerungen an Mutter und Vater. Eines Tages betritt ein deutscher Kunde den Laden. Er lässt sich von ihr ausführlich beraten. Das Gespräch mit dem Fremden weckt viele Erinnerungen und tröstet sie in ihrer Isolation. „Herr Schreiber“ kauft Michi schließlich zwei teure Fächer ab, die ihr das Auskommen für mehrere Wochen sichern. Groß ist ihre Rührung, als sie ein Päckchen geschickt bekommt, das einen der Fächer enthält, den ihr der einfühlsame Westler wieder retourniert, weil er um ihre Liebe zur Familie weiß.

Von Widrigkeiten, mit denen sich jüngere Japaner herumzuschlagen haben, erzählt der Beitrag „Viele Götter“: Ein junger Mann bewirbt sich um eine Stelle. Sein Aberglauben, der Reis müsse stets bis auf das letzte Korn gegessen werden, bringt ihm am Ende Glück. Junge japanische Frauen quält nicht selten die Konvention und die Pflicht, als Mutter und Ehefrau perfekt funktionieren zu müssen. „Das Monster“ (in diesem Fall ein hyperaktives, gefräßiges Kleinkind) schildert eine misslungene Familienflucht. „Kyoiku-Mama“ behandelt die Praxis der pränatalen Intelligenzförderung im Kontext einer japanischen Leistungsgesellschaft, die das Individuum schon vor der Geburt zu optimieren trachtet. Um ein fälschlich als Gastgeschenk beim Arbeitgeber abgegebenes Päckchen mit einem Sexspielzeug geht es in „Was ist das?“ – die Situation wird durch die weise Frau des Hauses gerettet. Das erotische Tokyo, Japan als Reich der Sinne, findet sich endlich kommentiert in „Welcome Home, Master!“. Ein Stripclub in Roppongi bildet die Kulisse, vor der ein Mädchen seinen Traumprinzen trifft.

Kulturbegegnungen thematisieren „Das schwedische Haar“ und „Kitamakura oder 49 Tage“. In der erstgenannten Kurzprosa finden ein junger Japaner und eine temperamentvolle Schwedin nicht zusammen, denn die lebhafte Ingeborga erschüttert die zarte Seele des fernöstlichen Jünglings zu sehr. So zieht er sich ohne Erklärung zurück, obwohl ihn in ihrer Gegenwart „Glück durchströmt“. Erfolgreich ins Ausland abgesetzt hat sich „Naski“ aus der abchließenden Episode des Bandes. Sie verbringt eine wunderbare Zeit bei ihrer amerikanischen Gastfamilie, verliebt sich und genießt die Freiheit, die ihr der Westen bietet. Doch Japan ruft sie zurück, die Teilnahme am Begräbnis des Großvaters ist Pflicht. Für 49 Tage muss sie die Trauerzeit einhalten, dann erst darf sie wieder in die USA. Sofort beginnt sie damit, auf dem Kalender die Tage durchzustreichen.

Nach der Lektüre dieser japanischen Liebes- und Familiengeschichten spürt man zunächst einen Dauthendey’schen Nachklang. Seltsam altmodisch sind diese Japaner, und das ist kein Wunder, hantieren sie doch in der Überzahl mit Pinseln, Fächern und Strohschlappen. Handys, Dildos und Hulk Hogan bilden hier eher die Ausnahme. Die Autorin zieht das alte Stadtviertel Golden Gai in Shinjuku eindeutig der Electric Town Akihabara vor. Bei einem Vergleich mit dem Film würden ihre Szenarien der Retro-Ästhetik Ozus entsprechen. Potente gestaltet kein schrilles Tokyo, wie es in „Lost in Translation“ aufscheint. Während man auf ein hypermodernes „Cool Japan“-Flair vielleicht auch gut verzichten kann, stört der pathetische Jahrhundertwende-Sound der Geschichten, der sich immer wieder an die Oberfläche des Texts durcharbeitet.

Es ist nicht die „einfache Sprache“, die ein wenig den Stil deutscher Übersetzungen japanischer Texte nachahmt (J-Deutsch) oder die Ess-Szenen, von denen man sich an Kawakami Hiromi oder Yoshimoto Banana erinnert fühlt, sondern eine Betulichkeit in den zwischenmenschlichen Interaktionen, die den Japaner bei Potente wieder einmal exotisiert. Sind die Einwohner Nippons heute tatsächlich so weltscheu, infantil-schüchtern, so der Pflicht und dem Fatum verhaftet? Muss die Liebe zwischen einer westlichen Frau und einem japanischen Mann wie in Dauthendeys „Den Abendschnee am Hirayama sehen“ noch tragisch enden? Bei Dauthendey wird der Heldin Ilse ihr japanischer Mann während der Schiffsfahrt nach Japan immer fremder, bei Potente kann Tetsuo die Fremdheit der Schwedin Ingeborga nicht mehr ertragen.

Manche Passagen konfrontieren den Leser mit unerklärlichen Brüchen im Bild des ewig schicksalsergebenen, lächelnden Nipponesen. Die Unstimmigkeiten scheinen jedoch nicht dazu angelegt, die Protagonisten zu entzaubern. Für einen Japanologen ist es bedauerlich, dass die japanischen Namen oft unrichtig sind und manche kulturelle Praktiken, über die die Autorin eifrig doziert, nicht korrekt wiedergegeben wurden: Kloschlappen würde sich ein reisender Japaner nie in den Koffer packen, wie dies „Frau Nishki“ aus „Der Eintopf“ tut, zudem würde die Freundin der älteren Dame das Gespräch nicht unbedingt auf dieses delikate Thema lenken wollen, ebenso wie eine japanische Frau Nishiki wohl nicht unverblümt von ihrem „gebrochenen Herzen“ spräche.

Zuguterletzt wissen wir heute wie vor hundert Jahren freilich nicht, wie er ist: der echte Japaner. Und dies sollte auch nicht die Leitfrage für Literatur sein, die sich mit dem Sujet Japan befasst. Allerdings gewähren Potentes Japan-Miniaturen nicht die „sensiblen Einblicke in die japanische Kultur“, die der Klappentext verspricht. Sie spielen nur mit dem Japan-Motiv, meist recht unterhaltsam, obwohl man sich sicher fragen könnte, inwieweit die Zutat „Japan“ für das Erzählte wichtig ist. Literarisch erreichen die Prosastücke nicht die stilistische und inhaltliche Konsequenz einer Autorin wie Amélie Nothomb, bei der exotistische Manierismen zum erfolgreichen Kunstprinzip werden.

Titelbild

Franka Potente: Zehn. Stories.
Piper Verlag, München 2010.
176 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783492054232

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