Recht und Ordnung

Arne Dahl spielt mit Rächern, Tätern und Opfern und mit dem Missbrauchsthema

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eines der seit Jahren heftigst in den Medien verschlissenen Themen ist der Kindesmissbrauch, der auch im Krimi Themen wie Serienkiller, Mord aus Leidenschaft oder Vergewaltigung den Rang abgelaufen zu haben scheint. Einer Gesellschaft, die sich anscheinend ihrer Zukunft mehr und mehr ungewiss wird, die allgemein verbindliche Regeln verliert und keine Grenzen mehr akzeptieren will, wird der Kindesmissbrauch anscheinend zum Gradmesser ihres Verfalls.

Nachdem in den 1960er-Jahren die Entgrenzung des Begehrens auch die Grenzen der Adoleszenz antastete, ist im symbolischen Haushalt der Moderne mittlerweile der Missbrauch zum zentralen Verbrechen aufgestiegen. Pädophile seien die wahren Massenmörder, heißt es entsprechend in Arne Dahls Roman, gesprochen von einer der Figuren (so dass sich der Autor selbst etwas im Hintergrund halten kann).

Nun wird man gut daran tun, die Thematisierung des Missbrauchs im Krimi nicht nur als Reflex eines gesellschaftlichen Notstands oder als Reaktion auf die Debatten, die darauf verweisen, anzusehen, sondern auch und vor allem seine symbolische Bedeutung in den Blick zu nehmen. Das Genre nämlich hängt in großem Maße an der jeweils neu zu bewerkstelligenden Balance von Verbrechen, Suche und Strafe, die wiederum auf den Status der Gesellschaft in der Sicht dieses hochsymbolischen Genres verweist.

Es ist also nicht die Frage, ob Kinder den Industrieländern besonders häufig und häufiger als in den 1950er-Jahren Opfer von Missbrauch werden, die eine Rolle spielt, sondern ob der Missbrauch als Störung der symbolischen Balance ein ausreichendes Gewicht hat. Und das kann man annehmen, anders wäre die Zahl der Missbrauchsromane nicht so hoch und anderenfalls würden sich prominente Autoren wie Dahl nicht derart intensiv dem Sujet widmen.

Dass Dahl dabei recht souverän vorgeht, ist man von ihm gewohnt. Und in diesem Fall zeigt er sich von einer besonders guten Seite. Eine Vierzehnjährige wird während einer Klassenfahrt vermisst. Die sofort eingeleitete Suchaktion ist vergeblich. Die Ermittler Dahls werden zwar nicht minder schnell eingeschaltet, sind aber anfänglich nicht besonders erfolgreich bei ihrer Arbeit.

Das ändert sich zwar nach und nach, sonst ginge der Roman ja auch ins Leere, und ein zweiter Fall wird nicht minder gelungen in die Hauptlinie eingeflochten, dennoch ist Dahl ein Könner darin, die Fortschritte in der Ermittlung nicht nur als intellektuelle Akte und systematisch-logische Abfolge zu liefern, sondern sie lebensweltlich und erzählerisch so einzubetten, dass das, was wir gemeinhin Spannung nennen, entsteht.

Das kann er, das will man von ihm, und die Überraschungen, die ebenso dazugehören wie das altbekannte Personal, die gewohnte Abfolge von Handlungen und Gesprächen und die nacheinander in den Romanen aufgebauten Handlungsbögen, die Beziehungen der Figuren untereinander entstehen lassen. Man will sich bei Dahl auskennen und dennoch immer wieder vor den Kopf gestoßen werden.

Dazu gehört, dass zwar einerseits die Missbrauchsthematik nicht korrumpiert wird. Es gibt den Bösen im Hintergrund, der sein eigenes Begehren über das Wohl anderer stellt und Grenzen nicht akzeptiert, es gib die Kontamination von Ökonomie und Perversion, es gibt die geheimen Netzwerke, das Internet als Medium, die Polizei, die sich vergeblich abmüht, den Pädophilennetzen auf der Spur zu bleiben, und es gibt die aufrechten Polizisten, die sich ausreichend vor den geilen Böcken ekeln und ihnen kräftig auf die Finger hauen.

Es gibt auch die selbsternannten Rächer und Henker, die sich über das angeblich macht- und zahnlose Rechtssystem stellen und für die Opfer und Täter immer schon klar zu trennen sind. Ein Irrtum? Nicht möglich. Täterrechte? Nicht nötig.

Aber es gibt auch die sympathischen Polizisten, die feststellen müssen, dass Gewalt und Grenzüberschreitung auch sie faszinieren, dass sie sie für ihr seelisches Gleichgewicht brauchen, es gibt die Opfer, die keine Opfer sind, es gibt die Racheengel, die sich von der anderen Seite nicht wesentlich unterscheiden, wir kennen das: die dunkle Seite der Macht. Auch dafür gibt es ein Genre.

Es gibt die toten Täter und lebende Opfer, und es gibt jede Menge Verwirrung, die sich allerdings am Ende einigermaßen moralisch einwandfrei löst. Die Bösen tot oder im Gefängnis, die Guten befreit und gerettet, je nachdem.

Das liest sich unterhaltsam und – wenn mans alles nicht moralisch sieht – auch ganz passabel. Wer hier jedoch sein Weltbild bestätigt sehen will oder meint, hier werde ein gesellschaftlich relevantes Thema abgehandelt, vielleicht sogar über irgendetwas aufgeklärt, der hat vom Wesen des Krimi auffallend wenig verstanden. Aber man muss ihn nicht verstehen, um ihn zu lesen.

Titelbild

Arne Dahl: Dunkelziffer. Kriminalroman.
Übersetzt aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt.
Piper Verlag, München 2010.
416 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783492053501

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