Die kinderlose Frau als Mangelwesen

Cornelia Pechota Vuilleumier untersucht am Beispiel von Heim und Unheimlichkeit die literarischen Wechselwirkungen zwischen den Werken Rainer Maria Rilkes und Lou Andreas-Salomés

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu Rainer Maria Rilke und Lou Andreas-Salomé, ihren Werken und ihrer Beziehung zueinander haben im Laufe der Jahrzehnte schon einige wissenschaftliche und teils auch nicht ganz so wissenschaftliche Publikationen das Licht der lesenden Welt erblickt. Nun hat sich ein weiteres einschlägiges Buch mit dem Titel „Heim und Unheimlichkeit bei Rainer Maria Rilke und Lou Andreas-Salomé“ hinzugesellt. Cornelia Pechota Vuilleumier hat es verfasst. Aus der Menge vergleichbarer Bände sticht der den „literarischen Wechselwirkungen“ zwischen den Werken der beiden LiteratInnen nachgehende Band nicht zuletzt durch sein ganz außergewöhnliches close reading sowie durch eine detaillierte Interpretation der Primärtexte hervor. Insbesondere die beiden „Haus“-Texte Rilkes und Andreas-Salomés dürften bislang nur in wenigen Studien einer ähnlich intensiven Lektüre unterzogen worden sein. Zudem durchstöberte Pechota Vuilleumier für ihre Untersuchung einen umfangreichen Quellenfundus, darunter etliche Archivalien, was zu manch interessanter Entdeckung führte.

Wie die Autorin eingangs zutreffend feststellt, „verblasste“ Andreas-Salomés „Status“ als Dichterin in eben dem Maße, in dem der Ruhm ihres „jüngeren Freundes“ wuchs, sodass ihre „einst viel gelesenen Werke durch die tradierte Betonung ihrer mütterlichen Hilfeleistung zunehmend aus dem Blick“ gerieten. Wie man anfügen kann, verschaffte es der rezeptionellen Unverhältnismäßigkeit auch keine Abhilfe, dass im Zuge der zweiten Frauenbewegung mit der erneuten Publikation einiger von Andreas-Salomés Novellen eine gewisse Wiederentdeckung einsetzte. Doch trug die zweite feministische Welle sicherlich auch in ihrem Falle dazu bei, dass eine Autorin nicht ganz in der Vergessenheit versunken blieb. Vielleicht wäre ohne diese Vorarbeit nicht einmal ihr hochinteressanter, im Jahr 2001 publizierter Briefwechsel mit ihrer Wahltochter Anna Freud erschienen. Und womöglich auch nicht die vorliegende Untersuchung.

Pechota Vuilleumier unterzieht die „thematische Polarisierung von Heim und Unheimlichkeit“ in den Werken der beiden LiteratInnen einer „intertextuellen Lektüre, die Komplizitäten, Komplementaritäten und Differenzen sichtbar macht.“ Ihr Anliegen ist es, neben Rilkes „kongeniale[r] Ansprechpartnerin auch die selbst schreibende Frau zu Wort kommen lassen, die sich im intersubjektiven Austausch mit ihrem geistigen Sohn von ihm inspirieren ließ“. Hierzu interpretiert die Verfasserin „Rilkes Beziehung zu Lou als Übertragung einer ursprünglich negativen Mutter-Imago auf ein wegweisendes Mutterideal“. Und hier ist nun auch eine erste, allerdings keineswegs neue Kritik angebracht. Sie betrifft die Unart, Männer respektvoll beim Nachnamen, Frauen jedoch plumpvertraulich beim Vornamen zu nennen, die noch augenfälliger, um nicht zu sagen gravierender wird, wenn es sich, wie im vorliegenden Falle, um eine längst erfolgreich publizierende Frau und „ihre[n] geistigen Sohn“ handelt. Nun unterläuft Pechota Vuilleumier diese geschlechterspezifisch hierarchisierende Benamsung keineswegs unbeabsichtigt. Vielmehr verwendet sie die „Namen Rilke und Lou“ ganz bewusst „gemäß einer literaturwissenschaftlichen Praxis“ und perpetuiert damit einen sexistischen Usus, alleine weil es ihn nun einmal gibt, ohne ihn zu problematisieren.

Doch zurück zu Inhalt und Anliegen der Studie, in deren Zentrum Rilkes und Andreas-Salomés jeweils „Das Haus“ betitelte Werke stehen. Unter Bezugnahme auf Sigmund Freuds – den Titel des vorliegenden Buches inspirierenden – Text „Das Unheimliche“ von 1919 unternimmt es die Autorin, die in den beiden Texten „anklingende Haus-Problematik sinnvoll zu deuten, ohne ihre dichterische Umsetzung durch eine Theorie zu banalisieren.“ Dieser Rückgriff auf den Begründer der Psychoanalyse beziehungsweise auf eine seiner für das Vorhaben dienlichen Schriften ist ohne weiteres legitim. Ob dies stichhaltig ist, hat die Argumentationsführung entlang der Texte zu erweisen. Sie bedarf also keiner außerhalb dieser gelegen Rechtfertigung. Pechota Vuilleumier scheint der Beweis- beziehungsweise Plausibilisierungskraft ihrer Referenztheorie, der Psychoanalyse, und deren Kategorie des Unbewussten allerdings nicht so recht zu trauen. Jedenfalls fühlt sie sich genötigt, zu deren Nobilitierung eine andere Disziplin heranzuziehen: die „moderne Hirnforschung“, die der „Renaissance des Unbewussten“ eine „neue Aktualität“ verleihe. Zur Nobilitierung anderer Disziplinen oder zur Autorisierung von Thesen, die in diesen vertreten werden, taugt die oft erkenntnistheoretisch naive neurologische Disziplin mit ihren monistischen Verkürzungen allerdings ganz und gar nicht.

Gravierender als diese sehr marginale Bezugnahme auf die Hirnforschung ist, dass die Autorin in kinderlosen Frauen implizit Mangelwesen sieht. Dies führt sie zu der Diagnose, Andreas-Salomé habe, indem sie schrieb, „ihren eigenen Mangel als kinderlose Frau dichterisch kompensiert“. Denn die „parthenogenetische Position der Schreibenden“ habe ihr „die geistige Schwangerschaft, die der Geburt jedes Werks vorausgeht“, verschafft und so „imaginär die biologischen Bande her[ge]stellt, auf die sie als Frau verzichtet hatte.“

Mithilfe der fragwürdigen Annahme der kinderlosen Frau als Mangelwesen gelangt die Verfasserin aufgrund einer dezidiert biografischen Lesart zumal der Texte Andreas-Salomés zu dem Befund, die Literatin habe „in ihrer vitalistischen ,Haus‘-Fantasie“ zu „verarbeiten“ versucht, dass „ihr Kinder in einer platonischen Ehe ohnehin versagt“ blieben und sie zudem „während einer außerehelichen Schwangerschaft“ eine „Fehlgeburt“ erlitt.

Folgt man Pechota Vuilleumier, ersetzte die Arbeit an ihren Werken für Andreas-Salomé nicht nur Schwangerschaft und Geburt, auch in den Inhalten ihrer literarischen Erzeugnisse schlägt sich Biografisches geradezu Seite auf Seite nieder; an erster Stelle das ,weibliche Trauma der Kinderlosigkeit‘ beziehungsweise das „Gedenken toter Kinder“: „Der fiktionale Rahmen bot ihr die Möglichkeit, diese Erfahrung, die sie in ihren autobiographischen Schriften immerhin ,verdrängte‘, diskret zu evozieren und gleichzeitig geheim zu halten.“ Indem Pechota Vuilleumier nicht versäumt sogleich zu erklären, diese These käme „noch heute einem Tabubruch gleich“, stellt sie nicht nur den eigenen Wagemut heraus, sondern folgt vor allem einer wohlbekannten Immunisierungsstrategie gegen anfällige Kritik. Scheint ein solche doch – wie immer sie auch lauten mag – die Tabuisierung-Behauptung zu bestätigen.

Pechota Vuilleumier aber steht derart im Banne ihrer autobiografischen Interpretation, dass sie selbst noch vermerkt, wenn es ihr bei irgendeiner Marginalie einmal partout nicht gelingen will, eine biografische Entsprechung einer Textstelle ausfindig zu machen. Zu Andreas-Salomés literarischer Figur Balduin, die sie mit Rilke assoziiert, hält sie etwa fest, dass von dessen „Frostbeulen an Händen und Füßen“ in Rilke-Biografien „nirgends die Rede“ ist.

Nun mag die biografische Lesart literarischer Texte unter verschiedenen Gesichtspunkten misslich und kritikwürdig sein, doch ist sie im vorliegenden Falle keineswegs kontingent. Vielmehr beruht Pechota Vuilleumiers gesamte Untersuchung auf eben diesem Interpretationsansatz, denn nur mit seiner Hilfe lässt sich das Erkenntnisinteresse der Verfasserin befriedigen. Und nur anhand einer strikt biografischen Interpretation kann sie zu dem Resümee gelangen, dass die beiden LiteratInnen das – wie sie mit Freud formuliert – „ Heimliche-Heimatliche […], das eine Verdrängung erfahren hat und aus ihr wiedergekehrt ist“, als „das Unheimliche in den intersubjektiven Raum ihrer Beziehung“ einbrachten, „wo es zwischen vertrauensvoller Übertragung und reflektierter Gegenübertragung literaturfähig wurde.“

Abschließend soll auch erwähnt werden, dass Pechota Vuilleumier jenseits der biografischen Lesart durchaus mit erhellenden intertextuellen Bezugnahmen der Literatin aufwartet, wenn es ihr einmal gelingt, sich von diesem Interpretationsansatz zu lösen. So macht sie etwa auf die sehr interessante „verborgene Präsenz“ Spinozas in Andreas-Salomés Roman „Das Haus“ aufmerksam.

Titelbild

Cornelia Pechota Vuilleumier: Heim und Unheimlichkeit bei Rainer Maria Rilke und Lou Andreas-Salomé. Literarische Wechselwirkungen.
Georg Olms Verlag, Hildesheim 2010.
408 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-13: 9783487142524

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