Dem Schlechten Schönheit abgewonnen

Geschichten und Skizzen von Hermann Peter Piwitt

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Um die Welt abscheulich zu finden, muss man sie lieben. Nur wer eine Vorstellung davon hat, was sie sein könnte, klagt darüber, was aus ihr gemacht wurde.

In den Geschichten und Skizzen, die Hermann Peter Piwitt unter dem Titel „Heimat, schöne Fremde“ zusammengestellt hat, geht es oft um den Furor der Effektivierung, der die Städte und Landschaften verwüstet. Eine Seenlandschaft wird touristisch erschlossen, indem ein meterbreiter Wanderweg betoniert wird, auf dem dann die Geländewagen rollen. Ein Stadtviertel, in dem es noch zwischenmenschlichen Kontakt gab, wird von jungen Kreativen auf der Suche nach echtem Leben besiedelt. Tatsächlich vertreiben sie dies „Leben“, und aus den Kneipen werden Bistros, in denen sie mit ihren Laptops sitzen.

Das Gute, das Alte, das Natürliche hier – das eklig Moderne dort? So einfach macht Piwitt es sich nicht. Der See, der bei ihm zugemüllt und dann bis zur Vernichtung verschönert wird, ist ein Stausee, also künstlich hergestellt. Die vertrauten Kneipen versammelten oft Alkoholiker, zum „echten Leben“ gehörte die häusliche Gewalt. Dass manche Linken in einer Art von Post-68er-Depression sich dem Mythisch-Urtümlichen zuwendeten, hat Piwitt schon 1982 in dem Essay „Das Verschwinden der Ursachen hinter den Urbildern“ kritisiert. 2008 wendete er sich gegen den Schriftsteller F., leicht als Hubert Fichte zu entschlüsseln, der ferne Kontinente als Projektionsraum mythischer Fantasien missbrauchte.

Es geht Piwitt nicht um das Urtümliche, sondern um das gut Gemachte. Er ist nicht gegen den Fortschritt, aber er klagt an, dass seine Mittel immer wieder zum Zerstörerischen verwendet werden. Neue Erfindungen könnten Arbeitskraft einsparen, die Utopie eines von den gröbsten Notwendigkeiten entlasteten Lebens näherrücken. Doch im bestehenden System führt Rationalisierung nur zu Arbeitslosigkeit und zur absurden Frage, wie erneut Arbeit geschaffen werden könne. Das Problem ist nicht die Technik, sondern der Gebrauch, den die Gesellschaft von ihr macht.

In keinem Aspekt bietet diese Gesellschaft Anlass zu viel Hoffnung. Es gibt diejenigen, die an den Rand gedrückt sind, die unverstellt reden – doch weiß auch Piwitt, dass Elend nicht edel macht und Armut ein Potential zielloser Gewalt darstellt. Es gab die intoleranten Linksradikalen, für die der Autor Piwitt, der seine eigenen Wahrnehmungen verarbeitete und keiner Partei beitrat, ein bourgeoiser Individualist blieb; es gibt den affirmativen Literaturbetrieb, der Piwitt dennoch als konsequenten Kritiker erkennt und an den Rand drängt.

Piwitt setzt die beiden Formen der Ausgrenzung, die er erfahren hat, nicht gleich. Vielmehr erscheint das linke Dogma nur als Folge einer Marginalisierung durch die Rechte. Was heute wichtig ist, ist der von Piwitt präzise herausgearbeitete Markttotalitarismus: dass auch noch nach der Finanzkrise der Wettbewerb am Markt als alternativlos ausgegeben wird und wie besonders die gewendeten Ex-Linken, die gerade erst die Sprache der Macht gelernt haben, sich nicht vorstellen mögen, dass andere Möglichkeiten bestehen.

Was dieses Andere betrifft, darüber ließe sich streiten. Ob sich die „guten Kommunisten“ Jesus, Thomas Müntzer, Rosa Luxemburg den deformierten Praktikern des 20. Jahrhunderts gegenüberstellen lassen? Piwitt weist selbst darauf hin, dass bislang nur die „rechtzeitig Geköpften, Gehenkten oder sonstwie ums Leben gebrachten“ wie Che Guevara es zu einer gewissen Popularität brachten – doch besteht auch seine Ahnenreihe aus Opfern, die um die Mühen der alltäglichen Verwaltung gebracht wurden. Will man, wie Piwitt, den Kommunismus, so muss man wohl für die „ganze Bruder-Utopie“ die grauen Pragmatiker in Kauf nehmen, die in notwendigen Kämpfen über die Jahre starr Gewordenen.

Piwitt ist, auch wo man widersprechen will, ein Essayist, der gedanklich wie sprachlich weit über Resonanzkörpern des Zeitgeists wie Günter Grass oder Martin Walser steht. Stets entsprechen sich die genaue Formulierung und die genaue Wahrnehmung. Manchmal schaut Piwitt bewusst das heimatliche Umfeld an; die Gelegenheit schlechthin, die Wahrnehmung zu schärfen, ist jedoch die Reise. „Vatersland“ von 1986 etwa macht eine so unscheinbare Gegend wie das Weserbergland anschaulich: in der Verwüstung der Landschaft durch eine misslingende Modernisierung, im Verhalten anderer Touristen. Eine historische Tiefendimension fügt in diesem Essay die Geschichte Johann Gottfried Seumes hinzu, der gut 200 Jahre die Weser hinab nach Bremen transportiert wurde, um dann zwangsweise als Söldner im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg zu dienen.

Die Landschaften sind schön oder könnten es doch sein; stets sind sie vom Menschen und seiner Geschichte geprägt. Wie der Mensch seine Umgebung macht, zuweilen zum Guten, öfter zum Schlechten, zeigen auch die fiktiven Texte, die einen wichtigen Bestandteil des Bandes bilden. Wie die Essays sind sie zum Teil bereits publiziert, zum Teil neueren Datums. Die Prosaskizzen, die bereits 1985 in der erweiterten Neuauflage von „Herdenreiche Landschaft“ veröffentlicht wurden, erweisen sich als beständig: die knappe Darstellung, die alles Nötige nennt und nichts darüber hinaus, und ein Sinn fürs Groteske, der sich nie satirisch gegen die Figuren richtet und dabei doch das Absurde wie das Unausweichliche ihres Handelns verdeutlicht, zeigen Verlierer. Doch gewinnen manche von ihnen etwas wie Leben, indem sie ihre Einseitigkeiten perfektionieren.

Die neuesten, hier erstmals gedruckten Prosaskizzen besitzen alle Qualitäten der älteren, doch sind sie zum einen inhaltlich noch verdichtet. So brauchen sie einen umso aufmerksameren Leser, der jedoch für seine Mühe belohnt wird. Zum anderen gewinnt nun die Sprache eine zusätzliche Dimension. Ähnlich wie im Roman „Jahre unter ihnen“ von 2006 sind nun auch die Sätze karger, gewinnen sie durch die Satzzeichen aber andererseits eine ganz neue Lebendigkeit. Piwitts späte Texte leben wie die früheren durch eine Fülle an Wahrnehmungen, die jetzt aber weniger ausgebreitet sind als durch einen ganz individuellen Rhythmus vermittelt. Das verlangt einen Leser, der nicht allein sieht, sondern ein inneres Ohr hat, der die Sprache hört. Dann aber wird die scheinbar spröde Vorlage sinnlich reich, wird das Leben sogar in seiner Zerstörung schön. Piwitt schreibt nicht für den leichten Konsum, sondern beweist mit jeder Seite, dass Anstrengung sich lohnt. Er beschreibt Untergänge und beschreibt Menschen, die gerade eben so zu bestehen vermögen; und dabei vermag er, mittels seiner Sprache, der Mühe einen hohen Grad von Schönheit abzugewinnen.

Titelbild

Hermann Peter Piwitt: Heimat, schöne Fremde. Geschichten und Skizzen.
Wallstein Verlag, Göttingen 2010.
248 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783835306219

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch