Instanzen der Ohnmacht

Eine historische Betrachtung der Wiener Judenräte 1938 - 1945

Von Antje EfkesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Antje Efkes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lange Zeit sei die deutschsprachige Geschichtsschreibung der Frage nach dem jüdischen Verhalten in der Zeit der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden ausgewichen. Doron Rabinovici hat sich intensiv mit diesem Thema befasst. Seit Mai liegen die Ergebnisse seiner geschichtswissenschaftlichen Dissertation unter dem Titel "Instanzen der Ohnmacht" im Jüdischen Verlag vor.

Doron Rabinovici, der in Tel Aviv geboren wurde und seit seiner Kindheit in Wien lebt, über sein Buch: "Das Thema, das hier behandelt wird, läßt mich seit Jahren nicht los. Die Diskussion um die Judenräte rührt an das jüdische Selbstverständnis nach 1945 und verdeutlicht zudem [...], dass der Mensch durch die nationalsozialistische Vernichtungspolitik sogar noch der Würde des Opfers beraubt wurde."

Die ebenso spannende und aufschlussreiche Arbeit dokumentiert die ausweglose Situation der Wiener Juden beginnend mit einer Bestandsaufnahme der israelischen Kultusgemeinde vom Jahr 1938. Der Autor betont dabei die zentrale Rolle Wiens bei der Entstehung der Judenräte: in Wien richtete Adolf Eichmann die erste "Zentralstelle für jüdische Auswanderung" ein - jene Behörde, durch die sich die Deportation in die Vernichtungslager erst organisieren ließ. Das in der Donaustadt entwickelte "Vorzeigemodell" nationalsozialistischer "Judenpolitik" sollte später in anderen europäischen Großstädten wie Berlin, Prag oder Paris übernommen werden. Die chronologische Beschreibung der Ereignisse erfolgt dann anhand der Darstellung zahlreicher einzelner Lebensläufe: "Um die Reaktion der jüdischen Gemeindeleitung in Wien auf die nationalsozialistische Verfolgungs- und Vernichtungspolitik zu behandeln, bedarf es keiner Gesamtdarstellung der Geschichte österreichischer Juden von 1938 bis 1945, sondern einer Diskussion der relevanten Ereignisse", so Rabinovici.

Diese Sammlung ohnmächtiger Reaktionsversuche jüdischer Gruppierungen oder Einzelpersonen auf die Diskriminierung, Ghettoisierung, Ermordung und schließlich systematische Deportation gipfelt in der Darstellung der Debatte über die "Schuld" einzelner jüdischer Funktionäre. Nach dem Krieg mussten sich die Überlebenden der Judenräte von Juden wie Nicht-Juden nicht nur vorwerfen lassen, sich verwerflich verhalten zu haben, indem sie mit den Nazis "kollaborierten", um sich selbst Vorteile zu verschaffen, sondern sie wurden für ihr Tun während des dritten Reichs vielfach auch härter bestraft als nationalsozialistische Täter. Die von den Nazis zur Mitarbeit gezwungenen Juden durften sich nicht auf Befehlsnotstand berufen. Nicht nur die Reaktion der Alliierten, sondern auch das Ausmaß der innerjüdischen Kontroverse nach dem Krieg zeigt: "Wer die Vernichtung überlebt hatte, war vorerst verdächtig", so Doron Rabinovici. Er zitiert die Überlebende Ruth Klüger als Autorität: "Und in Wirklichkeit war es Zufall, dass man am Leben geblieben ist." Erst Jahre später wurde die Verurteilung der Judenräte revidiert.

Eines der Beispiele beschreibt den Fall des "Gruppenführers" Wilhelm Reisz, der zunächst freiwillig für die israelische Kultusgemeinde tätig war, wobei er sich als besonders geschickt erwies, ausreisewilligen Juden Pässe zu beschaffen, dann aber von der SS für "Judenaushebungen" angefordert wurde. Nach dem Krieg zu 15 Jahren Haft verurteilt, erhängte er sich. In vielen Fällen wurden jüdische Opfer, die sich unter den Nationalsozialisten unter permanenter Lebensgefahr befanden, erneut zu Opfern gemacht, indem sie sich für ihr Überleben rechtfertigen mußten. Wilhelm Reisz war kein "verhinderter Nazi", sondern war in äußerster Not und unter Zwang in das Verbrechen verstrickt worden: Er musste immer genügend Opfer zum Abtransport finden, sonst haftete er mit seinem eigenen Leben. Zur Kooperation zwang man ihn durch die Drohung, an seiner statt könne auch die Hitlerjugend tätig werden. Kooperation schien das geringere Übel zu sein.

Welche Ergebnisse sind bei dieser historiographischen Untersuchung zu erwarten? Doron Rabinovici zeigt, dass sich auch im Nachhinein keine Handlungsalternativen eröffnen. "Keine Opfergruppe hätte unter ähnlichen Bedingungen anders reagieren können; keine könnte heute anders handeln." Der Autor stellt fest, dass sich die Judenräte sehr bald der Zwänge und auch des moralischen Dilemmas bewusst waren, für das sich viele von ihnen später zu verantworten hatten. "Abgetrennt vom Rest der Bevölkerung, [...] ohne Hilfe von außen, blieb bloß die Interaktion mit dem Feind. Nur in Verhandlungen mit den Nazis ließ sich [...] die Versorgung des Ghettos organisieren." Aus dieser "kollektiven Verantwortung" heraus versuchten viele der Funktionäre, Zeit zu gewinnen, gaben sich der Hoffnung hin, Grund der Deportationen sei Zwangsarbeit und nicht Vernichtung - doch es gab kein Entrinnen.

Doron Rabinovici beschreibt sehr eindringlich, dass die Judenräte unter den gleichen Zwängen standen wie alle anderen Juden auch. Die Nazis missbrauchten sie zu ihrem Zweck, gaben ihnen aber keinerlei Autonomie oder Gestaltungsspielraum. Diese Behörden waren zu bloßen Instanzen geschwunden, Instanzen der Ohnmacht.

Titelbild

Doron Rabinovici: Instanzen der Ohnmacht.
Jüdischer Verlag, Frankfurt 2000.
360 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3633541624

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch